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- 19 06 2022 - 13:29 - katatonik

Söhne und Töchter Waltrauds (oder: Xenakis und die Folgen)

[We bear the light of the earth — Xenakis birthday party. Wiener Festwochen, 18.6.2022]

Belvedere 21, noch Tageslicht bei Ankunft, Grün rundherum, entspanntes Fläzen auf bereitgestellten Matten.

Älteres Paar auf Hockern.
Sie: “Ob wir das überhaupt als Musik erkennen werden?”
Er: —-
Sie. “Du, vielleicht ist das sowas, wie’s der Sohn von der Waltraud macht, also Musik ohne Instrumente, nur mit Computer.”
Er: “Mhm.”

Fiepsender Ton setzt ein, in der Mitte des Raumes, nicht auf der Bühne, steht ein etwas gedrungener Mann, leger gekleidet in hellblaues Hemd und blaue Hosen, die Anmutung eines Computer-Supportingers, nicht die eines Künstlers, ein Laptop vor ihm und, ja, Regler. Der Ton wird lauter, komplexer, kommt jetzt aus mehreren Richtungen, es wird klar: Das ist kein Test- oder Störton, das ist der Beginn von “La Legende d’Eer”, ja, dann muss das wohl Wolfgang Musil sein.

Modernistische Konzerte neigen immer so ein bisserl in eine leicht unangenehme hyperindividualisierte Scheinsakralität zu kippen, vor allem bei Raumarrangements wie hier mit verformbaren Liege- bzw. Sitzmatten und kleinen Hockern, die jede*r hinplatzieren kann, wo’s grad passt. Körper fallen in sich zusammen, Menschen schließen die Augen und wirken & wippen wie in Trance. Selbsterfahrungsgruppenanmutung anstatt gemeinschaftlicher Konzentrationsausrichtung auf die Musik, zumindest dem Anschein nach, und der Anschein macht was aus. Das Publikum bricht als Kollektiv weg. Andererseits: Konzerte am Rücken liegend, das ist eine Form von Lebensqualität, die meine Wirbelsäule enthusiastisch affirmiert, und die Decke des 20er Hauses sieht man ja auch nicht so oft so genau.

Etwas verspätet zu Junko Uedas wunderbarer Biwamusik den Raum wieder betreten. Es wird dunkel, Ueda als einzelne Figur auf einer Seitenbühne erscheint noch kontrastreicher. Weiß geschminktes Gesicht, gelber Kimono, strahlend, nur sie und die Biwa. Heike monogatari, wenn ich mich nicht irre, Stimme und Ton wie knorrige Äste in einem Tatamiraum. Zu beschäftigt mit Zuhören für ein ordentliches Foto. Weniger Leute im Raum als beim nachfolgenden Construction Choir Collective mit “Jeux Vocaux” (auf die ich hätte verzichten können).

Marcus Schmickler dann so: Es würde jetzt laut werden, aber wir sollten ihm vertrauen, er hätte das unter Kontrolle. Es wird eh nur mäßig laut. Sein Stück ein Echo der “Legende d’Eer”. Wohlwollend würde man sagen: reduziert, weniger wohlwollend: verflacht. Es dauert nicht lange.

Ich sitze am Rand des großen Bühnenpodests, das leer war bei Schmickler, der ebenfalls im Zentrum des Raumes stand. Dann krächzt und stöhnt es hinter mir, meine spontane Reaktion “oh, jemand ist vom Sound ausgetickt und hat jetzt einen Anfall, das kommt von diesem Sakralwahn”. Es war aber Isabelle Duthoit, die mit Kehle, Lunge und Stimme in ein Mikrofon arbeitete, allein. Kreischen, Schreien, kehliges Gurren, Stimmstaccato, Atemnuancen unterschiedlichster Lautstärken. Sie geht dann mit dem Mikro durch den Saal und in das “Basement”, wo sich das Programm fortsetzen soll. Wir folgen ihr. “Das ist der totale Hammer!” ruft ein älterer Herr am Ende ihrer Darbietung aus, die doch viel von reiner Körperdemonstration hat.

Gerriet Sharma im Basement dann, leisere Töne mit Pausen, akustisch leider verschenkt, zu viele Nebentöne im vergleichsweise schlechter gegen Zufallslärm abgedichteten Raum. Das Barpersonal holt verschämt in Plastikfolien eingeschweißte Mineralwasserflaschenblöcke aus einem Schrank; Geräusch von aneinander reibendem Plastik. Das entspannte Publikum schmunzelt.

Dagegen: der beruhigende Effekt einer effizient (und dezent) rauschenden Lüftungsanlage in Pandemiezeiten.

Lee Ranaldo, “klassische Sonic Youth”, sagt ein G. (also nicht der G., sondern ein anderer) im Anschluss, der sich im übrigen als totaler Xenakis-Experte herausstellt. Von ihm als altem Wagnerianer hätte ich auch nichts anderes erwartet. Ranaldo bearbeitet diverse Instrumente, einige “aber hallo”—Momente stellen sich ein; ich sehe ihm gerne zu. Ich sehe Musiker*innen überhaupt gerne zu, sogar den Laptop- und Reglerfuzzis, bei denen man eigentlich nicht viel sieht, aber konzentrierte Gesichter (und die eine oder andere Zunge im Mundwinkel) sind auch nicht übel. Musiker*innen sehen einfach immer geil aus, auch dann, wenn sie nicht geil aussehen.

Ein zweites Set von Isabelle Duthoit folgt, das dem ersten gleicht; je nun. Bei Puce Mary gegen ein Uhr Abgang, tja, durchsoundet, irgendwann ist Schluss mit der Aufnahmefähigkeit; bis zu Persepolis zum Sonnenaufgang hätte ich eh nicht durchgehalten.

(Xenakis irgendwie besser als die Folgen, zumindest an dem Teil des Abends, den ich mitverfolgte.)

Nachts durch die Stadt mit dem Fahrrad, manchmal Schatten von Fledermäusen am Asphalt.

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