Dinge, die auftauchen
Ich aß den Mittagssalat in der Institutsküche, in Gesellschaft eines Postdoktoranden, der ein Bändchen von Kropotkin mitgebracht hatte. Wir sprachen darüber, wie wichtig es sei, breit zu lesen, Dinge zu lesen, die nicht zu eng mit dem Thema verbunden wären, an dem man gerade arbeitet, Texte und Literaturen zu lesen, die nicht fachwissenschaftlich wären. Herumzulesen.
Eines Abends in die Breitenseer Lichtspiele, ein Kino, das es seit 1909 dort gibt, wo es heute ist, “Alice in Wonderland” (1915), dazu Live-Sound von Philipp Quehenberger. Der Film natürlich ein restauriertes Filmfragment (“scenes missing”). Tierfiguren aus Pappmaché, historisierende, groteske Kostüme an der Hof-Entourage. Zitternde, zappelnde, aus dem Charakter des Mediums heraus unbeholfen wirkende Bewegungen in fahlem Schwarzweiß, dazu ein treibender, vibrierender, wummernder und immer wieder nervös überdrehender Sound, ein Zappelton zum Zappelfilm, zumeist exaltiert. Eine Szene, in der Hummer zur Lobster Quadrille aus dem Meer kommen. Da passte der Rhythmus des Sounds exakt zu den Bewegungen, und plötzlich hatte der über das elektronische Gerät gebeugte Körper vom Quehenberger, eine recht dünne Figur, genau dieselbe Krümmung wie die Hummerkörper, und er schien sich mit ihnen mitzubewegen. Ein Moment der performativen Serendipity.
Rock lobster.
Wiener Bezirke, in denen es kein Kino gibt; Wiener Bezirke, in denen es keinen Fleischhauer gibt.
Deadbeat is now Scott Monteith.
People happen.
Die Heidelbeerkiste über Crowdfarming, 2kg, aus Huelva, sie traf in Wien ein, ohne dass auch nur eine Beere beschädigt gewesen wäre.
Und wie ich vor einiger Zeit einem gegenüber saß, der sich beschwerte, ein anderer würde unwahre Geschichten über ihn erzählen, und ich meinte, ach, wenn ich daran dächte, was schon für unwahre Geschichten über mich erzählt wurden, das könne man doch nur belächeln, und er fragte mich lächelnd, welche unwahren Geschichten denn zum Beispiel über mich, und mir fielen nur welche ein, die eben genau er über mich erzählt haben soll, aber dann fiel mir ein, es könnte natürlich sein, dass genau dieses Erzählen wiederum Teil der unwahren Geschichten wäre, die über ihn erzählt wurden. Deswegen kam das Gespräch in ein lächelndes Stocken, und wir aßen weiter Kuchen.
Und ich weiß jetzt endlich, woran C., ein Musikerfreund, aus den Augen verloren irgendwann in den 1990ern, vor 12 Jahren verstorben ist, viel zu früh, ich hatte das irgendwann übers Internetz mitbekommen, aus der Ferne in Deutschland. Es sterben eh alle viel zu früh immer, aber der war halt annähernd in meinem Alter, und wenn Gleichaltrige oder Jüngere sterben, ist das immer auf eine besondere Art und Weise zu früh. Dabei ist es genauso zu früh, wenn welche sterben, die älter sind. Es war also jedenfalls ein Aneurysma, ein plötzlicher Tod, in der Badewanne. Ich fast erleichtert, weil ich immer anderes befürchtet hatte, Depression, Suizid. Aber natürlich kann man auch an einem Aneurysma sterben, wenn man vorher depressiv ist, das ist ja nicht ausgeschlossen. Erleichterung ist bei Todesarten grundsätzlich eine seltsame Reaktion.
Und immer noch pandemische Disruptionsgeschichten, retrospektiv erzählt: jüngere Kollegen, Staatsbürger von EU-Ländern oder Japans, die zur Zeit, als die Pandemie begann, in Thailand oder Australien beschäftigt waren. Der in Australien wurde aus dem Land geworfen, weil sein Aufenthaltstitel vor dem verordneten Ende eines Lockdowns auslief und aus Gründen keine Verlängerung möglich war; man hätte ihm einen Escort der Botschaft seines Landes zum Flughafen angeboten, und er saß dann mit sehr wenigen anderen im letzten Flug nach Tokio, von dort weiter nach Europa. Gespenstisch. Auch die in Thailand, alle ihre Arbeitsverträge nicht verlängert bekommen, ratzfatz, weg aus dem Land, ties broken. Und gleich der Gedanke: Sowas passiert Geflüchteten andauernd. Eine normalisierte und systemische Grausamkeit, von der Weiße oder recht gut verdienende Personen aus einem Ausland kaum betroffen gewesen waren. Unter den Bedingungen einer einsetzenden Pandemie wurden sie es.