Go to content Go to navigation Go to search

- 4 02 2023 - 07:28 - katatonik

Winds of Tragikomik

Serie “Poker Face”. Natasha Lyonne großartig als Charlie, großartig schon in der Serie “Russian Doll” (2019, 2022). Klein gewachsen, robust, trotziges Zottelhaar, starke Maria-Schneider-Vibes, eine ordentliche Gosch’n und diese Mischung aus sarkastischer Intelligenz und neugieriger Herzenswärme. Schwer vorstellbar, wie sie andere Rollen als die der intelligenten und gewitzten, in g’schissenen Verhältnissen operierenden Solonavigatorin spielt (von der es aber ohnehin gut mehr geben könnte im Unterhaltungsgeschäft). [Man kann solchen Frauenfiguren halt keine Männer als love interests an die Seite stellen, eh gut, aber andererseits wäre es schon auch interessant, würden sich Serien der Überlegung widmen, wie solche Männerfiguren beschaffen sein könnten.] Das Konzept von “Poker Face”: wechselnde Kriminalfälle unter eher räudigen Umständen in den ländlichen USA, die von Lyonne als Frau auf der Flucht — verfolgt von Benjamin Bratt als Las-Vegas-Casinorächer — mithilfe ihrer großen Gabe, Lügen unmittelbar zu erkennen (“Bullshit!”), gelöst werden, während sie wegen Autoproblemen irgendwo in der Pampa strandet oder irgendwelche temporären Scheißjobs übernimmt, vom Merch-Girl einer glücklosen Metal-Band bis zur Seniorenbetreuerin im Altersheim. Panoramen der Marginalisierung, des Scheiterns und des Strandens werden eröffnet. Viele broken dreams; die ganze Prämisse ist ja, dass Charlie ihr Lügendetektortalent dort, wo es wirklich viel Kohle brächte, nämlich beim Pokern, aus Gründen nicht ausleben kann. Tragikomik at its best.

… another kiss is all … (2:33, 6:22)

Schnitt. Harte Arbeit an etwas, was schon ein großer Erfolg wäre (ein Riesenprojekt), wenngleich ein zwiespältiger, weil mit größeren Zeitopfern verbunden. Man arbeitet ja im akademischen Leben, damit man noch mehr arbeiten kann, finde den Fehler, und es ist alles so sisyphesk, weil man immer für die eigentliche Arbeit Rahmenbedingungen schafft, aber dann nie Zeit hat, die eigentliche Arbeit zu tun, weil man dann schon die Rahmenbedingungen für die nächste eigentliche Arbeit schaffen muss. Endless Schaffing.

Weitere Arbeit also in der Projektgruppe, dem rituellen Vorgehen bei Riesenanträgen entsprechend folgt auf die Einreichung des schriftlichen Antrags (letztes Jahr) ein Hearing vor einem Panel. Die Generalprobe der Hearing-Präsentation vor kritischen Geistern führte diese Woche erwartbar zu einem “back to the drawing board”. Mich überraschte das nicht; ich habe so etwas bereits einmal mitgemacht, anders als die meisten anderen in der Gruppe, aber unter recht anderen Vorzeichen in Deutschland. Außerdem haben solche Proben vor gewissem Publikum zusätzliche Kommunikationsfunktionen; man macht ja solche Sachen oft mit ganz anderen Zwecken und Nebenwirkungserwartungen. Ich kann jetzt strategisch-taktisches Denken anwenden, das mir damals in Deutschland — von anderen angewandt — enorm auf die Nerven gegangen ist. Es geht mir jetzt nicht weniger auf die Nerven, aber ich habe konkretere Vorstellungen, was das alles bewirken kann und trage andere Verantwortung. Nach der Generalprobe immerhin ein Abendessen mit zweierlei Saibling und Williamsbirne am Ende (eine J.-Gedächtniswilliamsbirne; Williamsbirne war damals in Deutschland in ähnlichen Konstellationen unser konspiratives Abschlussgetränk) und einträglichem Gewitzel, das geht also auch.

Nachts am Heimweg auf der Brücke über den Donaukanal von Sturmwinden umtobt, ein paar Tage später abends das Gleiche. Rasch drehende Winde, einen Moment lang die Furcht, in den Donaukanal geweht zu werden, im nächsten Moment schon die Angst, der Wind würde mich unter die herannahende Straßenbahn auf der anderen Seite drücken. Trockene Schlaggeräusche zwischendurch, wenn der Wind einen Gegenstand verweht, hart aufprallen lässt, den Aufprallton aber gleichzeitig verwischt, fast wie diese wunderbar verhallten Sounds im Dub.

Im Hof des Wohnhauses riss der Sperber eine der residenten Türkentauben, ließ sich beim Rupfen von zufällig anwesenden menschlichen Beobachtern nicht im geringsten stören. Vor dem Justizministerium in der Innenstadt besang ein Amselmännchen bereits lautstark sein Territorium. Zur Unzeit überfüllte Cafés, lag auch das am Wind? Eine U-Bahn, in die niemand mehr einsteigen kann, eine andere ein paar Tage später, zur selben Zeit, fast leer. Ich habe kein Gefühl mehr für die Rhythmen in der Stadt, wenn es dunkel ist, und es ist ja noch so lange dunkel, gibt es da überhaupt noch Rhythmen?

  Textile help