Bildgeschichten
Ich glaube, es war 1977. Meine Eltern und ich flogen nach Tunesien, um in der Nähe von Nabeul in einer Bungalowanlage Ferien zu machen. Für mich und meinen Freund, den stummen Textilfuchs Dicky, bedeutete das blauhimmelige, blaupoolige Tage mit viel Essen. Gut, ich aß mehr als er, schwamm auch mehr als er – las sowieso mehr als er -, dafür hatte er weder mit stechenden Insekten noch mit Sonnenbrand zu kämpfen. Den Kopfsprung schaffte ich auch in diesem Urlaub nicht.
Die Zeiten waren noch rosig, die Familie noch nicht in Frage gestellt. Solche Urlaube leistete sie sich, im Vertrauen auf gesellschaftliches Emporkommen und damit verbundene Finanzmittel, aus Hunger nach Horizonterweiterung im Bungalowdorf und bei Tagesausflügen zu Kamelen und Beduinen.
Ich blieb bei sicherem Essen, sonnigen Swimmingpools und Sand zwischen den Zehen im Bungalowdorf. Mama und Papa waren für die Horizonterweiterung zuständig. Ein Elternteil blieb da, das Kind zu versorgen, einer flog aus. Dann der andere.
Papa hatte beim Ausfliegen seine Kamera dabei. Vielleicht haben wir kurz nach dem Urlaub die Dias einmal gesehen, in einer jener von Dicky und mir verabscheuten Familiendiaschauen. Würgs. Danach aber lagen diese und viele andere Dias Jahrzehnte lang im Keller herum. Urlaube, Dorfbewohner, Grosselternbesuche, Familienfeiern, Hausbauarbeiten. Es gab einen zeitlichen Bruch, der mit dem Zusammenbruch der Familie zu tun hatte. Für Fischaugen, Teleobjektive und Bungalowdorfhorizonte, da war dann nichts mehr übrig, kein Geld mehr, kein Geist, nichts. Dicky hatte ich dann auch schon vergessen. Die Dias, Kodachrome, in kleinen Schachteln zu je 24 Stück, kamen aus Papas Nachlass zu mir.
G. hat jetzt einen Diascanner. Ratsch, knurrr, surrrrr, so liest der Scanner ein Dia nach dem anderen ein. Auf G.s 19”-Monitor sehe ich Wüstenbilder, blaue Himmel, Sand, dunkelhäutige Menschen, Gewürze, unbekannte Touristen, Kamele.
Ich weiss nicht, wo die Aufnahmen entstanden, an welchen Orten. Manche der gelben Schachteln hatten kleine Aufkleber, auf die Papa mit seiner Schreibmaschine Ortsnamen getippt hatte. Nefta. Kairuan. Nabeul. Die Bilder haben keine Geschichten und werden auch keine mehr erinnert bekommen. Im Zimmer nebenan sieht sich G. zum x-ten Mal auf Video Antonionis “Blow-Up” an. In der Küche steht noch eine Flasche Bushmills, auch schon 16 Jahre alt.
Bilder von den alten Familienurlauben finde ich seltsam. Ich erinnere mich an nichts. Maximal eine Episode pro Reise, irgendeine Kleinigkeit. Merkwürdige Bilder. Diese Sachen, die man anhat, die Berge auf denen man steht, die Leute, mit denen man unterwegs ist: in anderem Zusammenhäng würde ich schwören, das alles nie gesehen zu haben. Mich macht das immer etwas traurig.
"Blow Up" haben wir letzte Woche auch wieder gesehen, auch zweimal. Ich liebe diese Szene, in der er immer hin- und herrennt, noch eine Auschnittsvergrößerung anfertigt, wieder zurück, aufhängen, schauen, zurück ins Labor, noch eine Vergrößerung, aufhängen, schauen, minutenlanges hin und her. Heute wäre das im Film nicht mehr möglich, da geht das so: "Jim, können Sie sich da reinzoomen, hier, am Zaun?" - "Sekunde bitte." (Knopfdruck an irgendeiner Phantasiekonsole) - "Bingo! Und jetzt um 180 Grad drehen. Da haben wir's: Das Tattoo verrät uns, dass er in Vietnam in der 48. Luftlandeinfanterie war." Wegen eines Kriegstraumas kann er sich aber vermutlich an nichts in Vietnam erinnern. Oder wegen des Bushmills. Alle Erinnerungen triple distilled.
kutter (Jun 14, 09:59 am) #
Diese Traurigkeit, die Sie da oben angesichts des Nichterinnernkönnens an offenbar selbst Gesehenes beschreiben, geht bei mir übrigens einher mit so einem Grundgefühl des Danebenstehens.
Mit fortschreitendem Alter dehnt sich das aus - nicht mehr nur das Gefühl, bei einzelnen Urlaubsfamilienfotoszenen daneben gestanden zu haben, sondern überhaupt der Eindruck, in dieser Familie ständig daneben gewesen zu sein. Ach ja, nicht nur in der Familie, und nicht nur im Perfekt.
katatonik (Jun 14, 12:13 pm) #
kamele, die aus flaschen trinken, sind fast so gut wie paviane, die auf schafen reiten, aber nicht so gut wie eine personal monkey army.
Nie da, wenn man sie braucht. Und was bedeutet das "aber" zwischen "fast so" und "nicht so"?
Das Danebenstehen. Neben denen, die einem hinterher erzählen, was man gemeinsam mit ihnen erlebt hat. Haben einem die Erinnerungen enteignet und sich damit aufgemacht. Und dann steht man da mit einem Haufen Fotos. Und neben einer Flasche Bushmills.
kutter (Jun 14, 01:11 pm) #
Die Situation hier ist etwas anders, beklemmender und befreiender zugleich. Die Erinnerungsenteigner sind entweder schon tot oder weit weg. Man wird sie nicht mehr treffen. Man sitzt jetzt in Zürich mit Bushmills und Diaschachteln. Der Scanner surrt wieder. Man hat mittlerweile auch sich selbst auf Dias gesehen, sich natürlich nicht an Einzelsituationen erinnert, aber an Situationstypen, Gesten des Deckeüberdenkopfziehens im Schlaf, Gesten des Zigarettenhaltens bei der Mutter (übernommen dann, klar), verkniffene Gesichtszüge beim kindlichen Kreuzworträtsellösen. Rundherum nur Löcher. Beizeiten bastle ich sie dann mal zu mit Brücken, auch wenns die damals dort nie gegeben hat, aber das weiss ja niemand mehr. Erstaunlich immer wieder, wenn man entdeckt, dass man selbst dort, wo nur man selber Zeuge von etwas war, denn doch nicht blind fabulieren kann, kriegt man nicht übers Herz. They call it civilisation, honey, and they made me part of it.
katatonik (Jun 15, 01:19 am) #