Bahnhofsoper mit Flashmob
Ziemlich unglaublich ist Flashmob – The Opera, von der BBC erstmals 2004 produziert und hier gerade als Drittverwertung im Fernsehen.
Es dürfte seither noch mehrere andere Umsetzungen dieses Konzepts gegeben haben, das in etwa so läuft: Ein Opernplot wird auf eine einfache, profane, gegenwärtige Geschichte reduziert und von professionellen Opernsängern und -sängerinnen dargestellt. Die Musik besteht aus einem Potpourri bekannter Versatzstücke verschiedener Opern (Aida, Nabucco, you name it; I can’t).
Das Ganze wird an öffentlichen Orten wie etwa dem Bahnhof Paddington aufgeführt. Dort sitzt ein mehrköpfiges (naja, so an die 60 Köpfe dürften reichen) Orchester herum, während die Darsteller und -innen durch den Bahnhof, seine Einkaufszentren, Running-Sushi-Lokale und andere Nichtorte streifen und singen.
Beiläufig sind auch einige Chöre eingewoben, die sich aus Angestellten der BBC oder des (eines?) Opernhauses zu London zusammensetzen und auf den an Bahnhöfen ja zahlreich verfügbaren verglasten Innentreppenplattformen stehen, durch gleiche, fast gleiche Kleidung als zusammengehörig markiert.
Im Laufe der Zeit versammeln sich Reisende, Einkäufer, Schaulustige, Müllmänner, Putzfrauen, sehen zu, gehen vorbei, fühlen sich irritiert, interessiert, gepackt, abgestoßen, alles drum, alles dran. Wir sehen naturgemäß hauptsächlich die, die da bleiben, denn den anderen folgt die Kamera nicht. Die, die da bleiben, halten übrigens immer Sicherheitsabstand, mit Ausnahme des einen oder anderen Kamerawinkers, wie man sie auch bei Sportlerinterviews so gerne sieht. Auch ein Phänomen: Bei Performances im öffentlichen Raum bildet sich immer ein Kreis von Zuhörenden mit Sicherheitsabstand, Ehrfurchtsabstand, Abstand eben.
Hingearbeitet wird mit Spannungsaufbau auf den im Titel programmatisch angesprochenen “Flashmob”. Im Vorfeld wurden SMS-Nachrichten verschickt, die zur Versammlung am Bahnhof und zur Teilnahme am Gesang aufforderten. Werden die Massen erscheinen? Werden sie mitsingen?
Bei “Flashmob – The Opera” handelt es sich um die Geschichte eines Orpheus und einer Eurydike, oder Mike und Sally. Mike liebt Fussball, Sally nicht. Er, ein untersetzter Vorstadtbrite, sie eine hübsche Vorstadtbritin. In einführenden Szenen, die noch nicht am Bahnhof stadtfinden, wird dem Fernsehpublikum die Vorgeschichte vermittelt: Mike und Sally telefonieren, Arien schmetternd, mit Mobiltelefonen miteinander, sie aus der Küche, wo sie für ihn Pasta zubereitet hat, er aus einer Arbeitsstätte, die weiße Kleidung mit Helm erfordert. Sie streiten, denn er möchte nicht nach Hause, sondern zum Football. Der Streit eskaliert. Er lässt sich von seinen Arbeitskollegen am Stammtisch trösten und versenkt das Mobiltelefon in einem Pint. Das Ganze in der Sprache des Plauderns, in der Musik der Oper.
Die gesamte Aufführung bezieht einen gut Teil ihres Charmes aus ebendieser Spannung zwischen alltäglicher, banaler, witziger Sprache und erhaben auratisierter (sagt man so? Jedenfalls von der Aura der Erhabenheit umgebener) Musik, und daraus, dass es einerseits eben eine Spannung gibt, sich der profane Text andererseits aber erstaunlich gut und glatt mit den erhabenen Klängen zu vereinen vermag. Das zweite wichtige Element ist die Kombination aus Oper und Fussball, gleich in mehrerlei Hinsicht, und gleich in mehrerlei Hinsicht toll umgesetzt: Das Hohe und das Populäre, die Opernchöre und die Fussballfanchöre, überhaupt, die (für mich ja völlig rätselhafte) Fussballfetischisiererei in Großbritannien, und was da alles dazugehört, eben auch, dass Männer auf Fussball stehen, Frauen nicht, diese sonderbare Geschlechterweltentrennung nach Art der 1950er Jahre (oder eben 2000er).
Am Bahnhof zieht Sally rastlos mit dem Rollkoffer umher, wo sie ein böser Casanova im Schnellrestaurant singend anbaggert. Wird sie, von ihrem Geliebten enttäuscht, des Casanovas Minnesang verfallen? Mike findet unterdessen zu Hause Sallys Nachricht (“gone home to mum”) und ihren Ring. Wird er es noch rechtzeitig zum Bahnhof schaffen?
Er, der reuige, doch stolze Liebende, rauscht nun mit der U-Bahn heran, in der er – begleitet von einem Akkordeonspieler – seine Wut absingt (zu Musik aus Aida, glaube ich). Er sprintet durch die U-Bahn-Station, in der ein Streichquartett herumsitzt und seinen Weg begleitet.
Die U-Bahn ist übrigens unwirklich sauber, dafür geht aber realistischerweise immer wieder das Licht aus. Die U-Bahn-Passagiere zeigen sich gänzlich ungerührt von dem auf- und abspazierenden Sänger und der ihm folgenden Kameraperson. Es heisst übrigens, einiges aus diesem 1. Akt wäre voraufgezeichnet gewesen.
Am Bahnhof entwickelt sich die Geschichte weiter. Mikes Reue wächst, seine Sehnsucht nach der geliebten Verlobten ertränkt seine Wut.
Beinahe hat er Sally im Gewirr des Bahnhofs erreicht, doch plötzlich stellt sich ein Chor aus Chelsea-Fans zwischen die beiden und rotzt ihn, den Charlton-Fan, singend an. Gegenüber baut sich ein Chor aus behelmten Polizisten auf und fasst die Geschichte in die Sprache von “evidence” und “forensics”, versucht die wütend zischenden Fussballfans zu beruhigen.
Es kommt zur Pause zwischen Akt 1 und 2, in der ein scheinbar berühmter Fussballkommentator vom Moderator befragt wird. Er kommentiert die Ereignisse wie ein Fussballspiel. Mike? Sally? Werden sie zusammenkommen? Wer wird siegen? Werden wir heute noch das grandiose Finale des Flashmobs erleben?
Akt 2 arbeitet ganz auf den Flashmob hin, verankert Erwartung in der anwesenden Menschenmasse, die ja zum Teil wohl gar nicht weiß, wie ihr geschieht, oder was ein Flashmob überhaupt ist.
Ein Engel – schwarzer Mann im weißen Anzug – erscheint oben auf einer Treppe und singt sich als solcher in die allgemeine Aufmerksamkeit. Die Situation ist verfahren. Mike ist hilflos, Sally scheint sich mit dem Verführer zu einem Zug aufzumachen. Wer kann sie retten? Natürlich der Chor. Wenn alle mitsingen, dann geht’s gut aus. Kindergartenpädagogik am modernen Bahnhof aus Metall und Glas.
Der Chor sammelt sich zusammen, verstärkt von den Chören, die da ohnehin schon herumstanden. Textblätter waren verteilt worden, das sieht man. Ergreifend kulminiert das Stück in der versöhnlichen Umarmung des Paares, um das herum gut 200 Leute singen.
Ich hätte übrigens gerne die lyrics zu dem Ganzen, und Videoaufnahmen wären auch nicht schlecht. Deutschsprachiges zu dieser BBC-Produktion (bzw. dem ganzen Konzept) konnte ich im Internet bisher nicht finden.