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- 16 09 2022 - 09:10 - katatonik

Geister und Gespenster II: das Mitschwingen des Ungeschehenen

Das Thema “Geister”, das mich nun schon einige Zeit beschäftigt, also, es nahm seinen Ausgang in einem ungewöhnlichen Traum, in dem jemand vorkam, den ich vor längerer Zeit etwas besser kannte. Es blieb das Gefühl zurück, da würde jemand, etwas, in mir herumspuken. Unheimlich, aber außerordentlich belebend. Ich beschäftigte mich damit, ließ mich von meiner Neugier durch das Internet führen, kam mir dabei freilich unangenehm aufdringlich vor, so, als würde ich vor jemandes Haus herumlungern (obwohl, im Vergleich zu Hanna Engelmeiers Thermomix-Exerzitien blieben meine Erkundungen doch eher an der öffentlichen Außenseite). Bald war da eine unauflösliche Mischung, aus persönlichen Erinnerungen, aus öffentlich nachvollziehbaren Versatzstücken einer weit verstreuten und nicht stringent gepflegten virtuellen Präsenz, die auch in neue Richtungen führten, die mit der erlebten Vergangenheit nur noch wenig zu tun hatten. Es kam zu Erkundungen und Entdeckungen durchwegs spannender Art.

Es schien mir passend, über diese Gemengelage, dieses verwirrende Gemisch, mithilfe der Metapher von Geistern und Gespenstern nachzudenken. Die Gemengelage, sie hat übrigens auch mit dem Älterwerden zu tun, mit der vermehrten Präsenz von Schichten der Vergangenheit im Gedächtnis, und mit sich spürbar ändernden Mechanismen des Gehirns, mit Vergangenheit umzugehen, auch mit sich spürbar ändernden Emotionslagen. Ich vermute, dass mich das noch längere Zeit beschäftigen wird.

Vielleicht leben viele mit dieser Art von Geistern, ohne sie aber so zu benennen. Ich bin mir auch nicht mehr ganz sicher, ob die Metapher trägt, but I’ll run with it for the time being. (“Wenn man mal zugibt bekloppt zu sein, geht’s eigentlich”, sagt jemand aus der Hood auf Twitter; das ist völlig korrekt.)

Es gibt Menschen, die aus einer Leben verschwinden. Im Extremfall durch ihren Tod, aber hier geht es mir um die anderen – um die weiter Lebenden, zu denen man den Kontakt verliert, von einer Seite gewollt, von beiden, oder auch anders. Manchmal muss das aus Gründen sein, man will es vielleicht sogar, aber es kann auch dann Schmerz verursachen, und zwar wiederkehrend. Manchmal ist es einfach ein leichter Abschied. Es weht Menschen auseinander, es kommt zu einer Art würdevollem Auseinanderdriften. Manchmal ist ein Abschied gar nicht als Abschied für länger gemeint, geschweige denn für immer, aber es wird dann ein längerfristiges Auseinandergehen daraus, unausgesprochen; das erweist sich kurzfristig als, nun ja, würdevoll, ohne Bitterkeit, aber längerfristig mitunter als überraschend schmerzvoll. Jedenfalls Ambivalenzen ohne Ende im Einander-Verlieren, das mehr ist als nur ein Einander -Verlieren, dazu später mehr. Wenn man häufiger an verschiedenen Orten lebt oder ein Leben führt, das eine*n mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammenbringt, bleiben jedenfalls potenziell viele Geister zurück, während die entsprechenden Menschen noch am Leben sind. Da kommt einiges zusammen. Die Geister stehen für diese Orte, für andere Zeiten, für deren Politik, deren Gesellschaften und Gestimmtheiten, für Erlebtes und Erfahrenes, the whole package; sie stehen jedenfalls nicht nur für die Menschen, für die sie vorrangig zu stehen scheinen, auch wenn die Menschen Kristallisationspunkte sind, in denen sich alles verdichtet. Aber da ist noch mehr.

Die Geistmetapher ist tückisch. Sie verführt zum Begriff des Spuks, legt nahe, den Geist als eine unkontrollierbare und vorrangig unheimliche Präsenz zu sehen, als etwas, das kommt und geht, wie es will, das eine*n verfolgt. Spuken, das ist doch so etwas wie verfolgen, oder? Haunting, das ist spuken, aber auch: heimsuchen, eine wiederkehrende Präsenz von etwas Unheimlichen, die etwas Beängstigendes an sich hat. Aber ist es angemessen, Geistern dergestalt hohe Autonomie zuzusprechen? Ist es nicht so, dass man sie anruft, heraufbeschwört, minimaliter Umstände schafft, in denen sie sich eingeladen fühlen? Die Anthropologie der Geister kennt bestimmte Techniken der Handhabung, Rituale, mit denen Geister ausgetrieben, aber auch in den Dienst gezwungen, besänftigt oder schlicht zur Gewährung von Schutz und Hilfe angerufen werden. Geister und Gottheiten, fließende Übergänge. Es gibt jedenfalls mehr als Exorzismus, und weitaus Reizvolleres.

“All stories are ghost stories, about things lost, people, memories, home, passion, youth, about things struggling to be seen, to be accepted, by the living.”

Das, ein Zitat des US-amerikanischen Schriftstellers James Sallis aus dessen letztem Roman “Sarah Jane”, lese ich – in deutscher Übersetzung – in der Vorankündigung eines Hörspiels von Wittmann & Zeitblom (mit Alice Dwyer), das auf diesem Roman beruht (lesenswert, übrigens, ein Text voller Lücken und Sentenzen). Verluste und ihre Erfahrungen sind vielfältig; aber was man genau genommen verliert, ist eine Zukunft, die nicht stattgefunden hat. Das kann eine Art Verheißung sein, derer man verlustig gegangen ist. It started out great, but it could have become so much better.

An Mark Fishers Essays zum Thema hauntology, auf den mich die Herren goncourt, mediumflow und guenterhack auf Twitter dankenswerterweise hingewiesen haben, finde ich vor allem den Gedanken interessant, dass Geister und ihr haunting für in der Vergangenheit unrealisierte Möglichkeiten stehen können, für lost futures. Bei Fisher ist das populärkulturell verbrämt und gesellschaftlich, auch politisch, gedacht; ich erlaube mir hier eine idiosynkratische Aneignung der Idee. Geister stehen für das, was geworden sein hätte können. Der Irrealis suggeriert ein Element des Bedauerns, aber man kann das auch distanzierter sehen, neutraler: Sie stehen für eine Möglichkeit, sich zu einer ungeschehenen Zukunft (die dann auch eine ungeschehene Gegenwart und Vergangenheit wird) zu verhalten. Das kann aber auch bedeuten: Man muss die Geister nicht austreiben. Es gibt artgerechtere Formen des Umgangs mit ihnen als Exorzismus. Sie bieten Gelegenheiten, sich aus gewonnener Erfahrung heraus mit Möglichkeiten zu beschäftigen, die es einmal gegeben hat, die man unter Umständen auch weiterspinnen kann, vielleicht. Man eröffnet sich einen Raum des Ungeschehenen, wenn man Geistern nachspürt. Das ist nicht uncharmant.

Ich versuche also, meine Geister zu kultivieren. Ich spreche mit ihnen, manchmal schreibe ich sogar Dialoge auf, die mitunter ein bisschen wie Being John Malkovitch geraten. Die Geister pflegen dabei gerne einen schnippischen, ironischen Tonfall, mit beigemischter Grundgüte. Benign present absences. Sie machen sich gern lustig über mich, wie auch ich mich lustig über sie mache. Man neckt einander. Sie korrigieren mich, sie bewahren mich gelegentlich vor Sentimentalität und oft vor Selbstmitleid. Man schenkt sich nichts und gibt sich viel, auch wenn ich ehrlich gesagt nicht genau weiß, was sie ihrerseits von mir haben. Meist sind sie da, um mir zur Seite zu stehen, so stelle ich mir das jedenfalls vor, aber sie wissen halt auch nicht immer, wie das am besten geht, oder wann das nötig wäre, no hard feelings, auch mit Geistern gibt es Kommunikationsschwierigkeiten. Zumeist aber ist ihre Präsenz spürbar belebend.

Gut, manchmal schmeiße ich sie raus; dann wird’s zu viel. Manchmal übertreibe ich es auch, das geht ihnen wohl auf die Nerven. Jedenfalls werden sie mitunter unwirsch, verweigern sich dem Gespräch, oder verschwinden einfach plötzlich, für Wochen, um sich dann wieder zart bemerkbar zu machen, nur so als Hauch, als Sprühnebeldusche des Ominösen. Haben wohl auch anderes zu tun, man spukt gewiss multipel. Sie bleiben in einem verschwommenen Bereich ohne scharf umrissene Konturen, in dem vieles ineinander verläuft. Man kann sich an ihnen nicht festhalten; man kann sie nicht festhalten; sie lieben die Unklarheit, sind assoziativ, sprunghaft. Hätte man Geliebte aus anderen Städten, würde man sie sich in etwa so vorstellen: Sie tauchen gelegentlich auf, es kommt zu wunderbaren Momenten, und dann verschwinden sie wieder in ihr eigenes Leben, das rätselhaft und verborgen bleibt, und man selbst in das eigene, von dem sie ihrerseits bestenfalls ahnen. Der Vergleich hinkt, gewiss, denn die verlorenen Zukunftsstränge, für die die Geister stehen, schwingen in ihrer Ungeschehenheit einfach mit, ambient sound. Die Geister verschwinden mitunter, aber sie hinterlassen etwas. Ein Mitrauschen für die Gegenwart, vielleicht sogar Saiten, auf denen sie spielen kann. Und sie kann sie in weitere Möglichkeiten verwandeln, das scheint mir verlockend.

Ach ja, Christina Dongowski wies auf Twitter noch auf ein Zitat von Toni Morrison hin:

“I think of ghosts and haunting as just being alert. If you’re really alert then you see the life that exists beyond the life that is on top. It’s not spooky necessarily—might be—but it doesn’t have to be. It’s something I relish rather than run from.”

Es stammt aus einem Interview mit Morrison aus 2004 auf NPR, dem ich aber leider nichts weiter Erhellendes über Geister entnehmen kann. Frau Dongowski verdanke ich übrigens auch den Hinweis auf Avery F. Gordons Buch “Ghostly Matters – Haunting and the Sociological Imagination”, den ich hier noch festhalte.

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Nachtrag: Hilary Mantel verstarb am 22.9.2022; aus diesem Anlass postete jemand auf Twitter folgendes Zitat von ihr, das einen ähnlichen Gedanken von Geistern als unrealisierten Möglichkeiten formuliert, wenngleich wehmütiger und eindeutig negativer, als ich es im Sinn habe:

“You come to this place, mid-life. You don’t know how you got here, but suddenly you’re staring fifty in the face. When you turn and look back down the years, you glimpse the ghosts of other lives you might have led; all houses are haunted. The wraiths and phantoms creep under your carpets and between the warp and weft of fabric, they lurk in wardrobes and lie flat under drawer-liners. You think of the children you might have had but didn’t. When the midwife says, ‘It’s a boy,’ where does the girl go? When you think you’re pregnant, and you’re not, what happens to the child that has already formed in your mind? You keep it filed in a drawer of your consciousness, like a short story that never worked after the opening lines.”

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