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- 16 01 2023 - 12:39 - katatonik

Von einem Text, der nie fertig werden wird

Vor 20 Jahren begann ich, einen Text über sie zu schreiben; ich gab ihm den Titel “Bevor sie vor die Hunde ging”. Es war damals die einzige Tonart, in der ich über ihre letzten Tage schreiben konnte, gleichzeitig empfand ich sie aber als unpassend, ganz und gar. Dieses Bild, dass jemand vor die Hunde geht: ein Elend, ein vollständiges Elend, das nichts anderes sein kann als Elend, ein Elend notwendigerweise, nichts zu rütteln dran, nichts zu deuten. Die Phrase als ganze, eine Fatalität in der Entwicklung anzeigend, unverhüllt, ungeschminkt, brutal. So war das; so sah ich das. Aber eben unpassend, weil: die Härte in der Haltung zum Geschehenen, die mit diesem verdammten Elendsbild verbunden ist, nein, so ging das nicht. Als ich den Text zu schreiben begann, war sprachliche Härte für mich selbstverständlich im Umgang mit der Welt. Schon damals fand ich sie aber für dieses Geschehene dann doch völlig daneben, unehrlich, eine spöttische Verweigerung gegenüber einer Situation, die mehr von mir verlangen durfte.

Sie wachte noch auf, an diesem einen Tag, benommen, obwohl sie nicht mehr hatte aufwachen wollen. Nichts an ihr war an diesem Tag so, wie es jeden Tag hätte sein können. Alles war schwerfällig und benommen. Sie war aber sonst nie schwerfällig, und sie war nie benommen. Sie war deprimiert, in sich versunken, zweifelnd, verzweifelt, weit weg, immer häufiger, immer länger, aber nie schwerfällig und schon gar nicht benommen. Sie taumelte sonst nie, sie fiel sonst nie.

Er, er sah nichts. Den ganzen Tag. Ich, ich sah etwas. Immer wieder. Ich sah hin, nicht nur zu. Aber nicht mehr. Sie, benommen, ich, gelähmt. Ich konnte nicht mehr. Vielleicht war auch er gelähmt, vielleicht konnte auch er nicht mehr; ich räume ihm ja nie Möglichkeiten ein, nur Schuld, auch das eine Art der Verweigerung. Ich wollte, an diesem Tag ganz besonders, dass der Bruch zwischen ihnen endlich ein endgültiger würde, damit ich endlich eine Ruh hatte von diesem Auf und Ab, das eh immer mehr Ab war als Auf, aber das durfte einfach nicht sein. Damit das hätte sein dürfen, hätte er ein anderer sein müssen, das Dorf anders sein müssen, das Land. Und sie auch. Und deswegen durfte sie nicht mehr sein.

Über den Tag, an dem sie so benommen war, war lange vor dem Text, der nie fertig werden wird, auch ein anderer Text geschrieben worden, von mehreren, mich eingeschlossen: ein Drehbuch für einen Kurzfilm, der vor Ort gedreht wurde, an Originalschauplätzen also, einige Jahre nach dem Tag, der jetzt schon gut 37 Jahre her ist; das Haus stand da schon leer. Der Kurzfilm war Teil eines Episodenfilms, der dann auch nie fertig wurde, aus ganz anderen Gründen. M., der Regisseur (des Kurzfilms), der dann nach Berlin ging – er kam eigentlich aus dem Schwabenland, kein Witz –, hatte immerhin 30.000 Schilling Filmförderung für eine Probesequenz bekommen; das finde ich heute im eingescannten und online verfügbaren Kunstbericht des Ministeriums für jenes Jahr. Die Dreharbeiten, auch eine Geschichte für sich, eine charmante, groteske, aberwitzige und dramatische. Lauter Wahnsinnige, mich eingeschlossen; es war adäquat. Den Text des Drehbuchs finde ich nicht mehr. Es war noch nicht einmal die Zeit der Personal Computer und Speichermedien (Disketten), jedenfalls nicht bei uns. Es war noch die Zeit, wo man auf 16mm ORWO drehte, billig aus der Tschechei geholt.

Der Text mit dem Vor-die-Hunde-Gehen, ich konnte ihn nie zu Ende schreiben, nie sagen: So, das ist es jetzt, das bleibt so, das sagt etwas, von dem ich überzeugt bin, es kann so gesagt werden, es muss so gesagt werden, at least for now. There was never a now for which this text felt right. Ich kann an diesem Text Vieles falsch finden, und zwar immer wieder anderes. Er enthielt schon auch Sätze, die meistens richtig waren. Sätze wie “das glaubt keiner, das kann keiner glauben” oder “Wer würde sowas glauben, auch nur annähernd für wahr halten?” Sätze, die das Geschehene als Zumutung auswiesen, seine Ungeheuerlichkeit ausdrückten, eine bleibende Verwunderung darüber, dass es so etwas überhaupt geben kann. Aber so wahr solche Sätze auch schienen, so unwichtig wurden sie mit der Zeit. Ja, es war eine Zumutung, es war unglaublich, aber die Welt kennt doch so viele Zumutungen. Und: Wie lange kann man Ungeheuerliches unglaublich finden? Irgendwann beginnt dieser Impuls, sich lächerlich anzufühlen.

Ich konnte jedenfalls zu keinem Zeitpunkt Text oder Titel so ändern, dass nichts Wichtiges mehr daran falsch gewesen wäre. Nein, es ist eben nicht so, dass die Dinge so kommen mussten, dass das Elend unvermeidbar war; doch, wir hätten es verhindern können. Und was heisst das überhaupt: Sie durfte nicht mehr sein. Natürlich durfte sie sein, sie musste sogar sein, verdammt.

Der Gedanke kam auf, irgendwann, es sei ja so lange her, dass die Frage nicht mehr zählen würde, ob irgend jemand hätte verhindern können, dass sie dann doch nicht mehr aufgewacht ist, ein paar Tage nach besagtem Tag. Seither war so viel Wirklichkeit ohne sie, dass die Vorstellung einer Wirklichkeit mit ihr gar keine Umrisse mehr bekommt. Aber immer dann, wenn ich das denke, kommt irgendwoher ein Einspruch, eine Stimme, die sagt, und zwar mit Verve: Geh bitte, nein, die Frage zählt, und wie. Ich möchte gerne, dass das ihre Stimme ist.

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