Von Sterbenden
Sie lag auf die linke Seite gedreht. Man hatte sie so gedreht, man drehte sie abwechselnd von einer Seite auf die andere, manchmal auch auf den Rücken. Die Arme immer angewinkelt und am Oberkörper abgelegt. Der Schlaganfall betraf die rechte Seite des Gehirns und damit die linke Seite ihres Körpers. Gesprochen hat sie schon seit einem halben Jahr nicht mehr, sagt der D., ihr Sohn. Da war ein blöder Sturz, ein Bruch, danach hat sie aufgegeben. Sie hat aufgegeben ihren Körper zu bewegen, Stück für Stück. Aber ein Wille zu leben, der war noch da, eine Freude über seinen Besuch, über Berührungen, über Busserln auf die Wange. Als sie noch lesen konnte, im letzten Jahr, da las sie immer, las sie ausschließlich, aus W. Bernard Carlsons Biografie von Nikola Tesla, erzählt der D. Ein Buch über einen intelligenten Migranten aus dem Osten, der es im Westen schwer hatte. Das passt biografisch wie die Faust aufs Aug. Sie hielt das Buch auch noch fest, als sie nicht mehr lesen konnte.
Erst ist sie in einem Zimmer mit drei anderen Damen, zwei ältere, eine jüngere. Die jüngere dick, aufgedunsen, mental in einer anderen Welt, manche würden sagen, geistig behindert. Sie blickt dich an, unverwandt, so sagt man, mit großen Augen, über einer bunten Zeitschrift, in der sie blättert, immer die gleiche Zeitschrift, all die fünf Stunden lang, die du an diesem Tag da bist, immer der gleiche Blick, zu dem du nichts sagen kannst. Eine der beiden älteren Damen hat Anfälle spontaner Redseligkeit. Sie hält ihr Mobiltelefon und wischt, sagt Sätze, von denen nicht klar ist, an wen sie sich richten, oder ob überhaupt an jemand Bestimmtes.
“Es wird schwül.”
“Gestern hätt mein Neffe kommen sollen, aus der Steiermark, aber dann das Unwetter.”
“Das Nachthemd, so warm. Immer das gleiche Nachthemd geben’s einem im Krankenhaus, ob Winter oder Sommer. Viel zu warm im Sommer. Daheim trag ich kein Nachthemd, nur ein Leiberl.”
“Mistelbach, 25 Grad.”
“Meine Geburtstagsfeier hätt ich in dem Heurigen dort haben wollen, aber dann das Krankenhaus.”
Sie liegt also da, ein jetzt durch und durch gebrechlicher Körper, nicht in das Bett gesunken, sondern im Bett aufgehoben. Ihre Lippen sind leicht gespitzt. Die Augen sind halb geöffnet, aber es ist kein Blick in ihnen. Das ist zuerst erschütternd, wenn da kein Blick ist, aber du gewöhnst dich in gewisser Weise daran, dass da jemand ist, der nicht mehr da ist. Ein Körper, der mit jedem Atemzug trockener wird. Der Atem erst regelmäßig, wie im Schlaf, dann stockt er etwas, was immer leicht ängstigt, bevor er wieder einsetzt. In den Atempausen prüfst du, ob an jenen Stellen, die durch Herzschlag bewegt werden, noch Bewegung ist, am Hals zum Beispiel. Ich lese später von der Cheyne-Stokes-Atmung, die auch nach Schlaganfällen eintritt. Manchmal blinzelt sie. Wenn der D. oder ich ihr ein Busserl geben, oder mehrere, wenn ich meine Wange an die ihre drücke und dort lange halte, oder wenn ich ihren warmen Unterarm fest drücke, dann blinzelt sie mehr, dann blinzelt sie schneller. Dann sind die Augen nicht mehr grau verschleiert; die Iris klärt sich. Zu einem Blick kommt es aber trotzdem nicht mehr, denke ich. Sie schaut ihn an, denkt der D.
Wir gehen rein und raus, der D. und ich, später dann auch seine Schwester, am darauf folgenden Tag dann auch die Freundin seines Sohnes mit der Zweijährigen am Arm. Wir gehen raus und geben einander Zeit allein mit ihr, oder der Ärztin Zeit für die Visite, oder den Pflegerinnen Zeit für Drehungen, Waschungen, Einreibungen. Die anderen drei Patientinnen bekommen ihr Mittagessen. An ihrem Bett steht “Nahrungskarenz”. Es gibt keine Magensonde, das hätte keinen Sinn mehr. Es gibt keine Behandlung mehr außer Schmerzmedikation, Morphine, subkutan. Man könnte noch stärkere neurologische Reaktionen provozieren, sagt die Ärztin. Aber es würde keinen Zweck erfüllen. Sie sagt nicht dazu: Es wäre eine reine Beruhigungsshow für die Angehörigen, die ihnen noch dazu falsche Hoffnungen machen würde. Wir verstehen das auch so. Die Entscheidungen sind alle sehr klar, weil sie keine Entscheidungen mehr sind. Es ist dies ein notwendiger Prozeß des Sterbens, der sich ereignet, in seiner zeitlichen Dimension nicht genau absehbar, aber doch genau genug. Ein paar Tage noch.
Wir gehen ins Café im Erdgeschoß, wo immer der Bär los ist, ein populäres Krankenhauscafé mit sehr freundlicher Bedienung. Wir sitzen draußen. Ein Eiskaffee vielleicht? Der ist echt gut. Wir gehen vorbei an der Wartezone der Unfallambulanz, so viele Leute mit Gips da, unglaublich, wieso haben die alle so viele Unfälle? Scooterfahrer, meint der D., Traktorfahrer, meine ich. An einer hohen Flurwand hängt ein riesiges Schüttbild, das aussieht wie von Hermann Nitsch. Sein Name steht aber nicht dabei.
Das Bild ist von Hermann Nitsch, der in der Gegend wohnte. Im Jahr 2004 hat das Land Niederösterreich das Bild um 30.000 Euro angekauft. Blut, Leiden und Erlösung sind als Themen in einem Krankenhaus durchaus stimmig. Was fehlt, ist das Gesundwerden, das Wiederherstellen, ohne religiöse Bedeutungsdimension. Aber das wäre dann eben nicht Nitsch, und in einem Krankenhaus, wo ohnehin in jedem Krankenzimmer ein Kreuz hängt, kann man sich eigentlich über Passionsbilder nicht gut beklagen. Es gab Proteste gegen das Bild. Der damalige Bürgermeister wird zitiert mit der Aussage: “Nitsch malt auch Bilder in Orange und Gelb. Für die Klinik hätte man besser ein solches genommen.” Der Journalist, der ihn auf die Existenz auch gelber Körperflüssigkeiten in Krankenhäusern hinwies, wurde vermutlich im Krankenhauskeller einbetoniert. Hermann Nitsch verstarb jedenfalls 2022 in ebendiesem Krankenhaus. Das Bild hängt immer noch da, ein tröstliches Zeichen dafür, dass aufgekochte Empörung gelegentlich auch wirkungslos verpuffen kann.
Am zweiten Tag hat man sie in ein Einzelzimmer verlegt, in ein Bett direkt beim Fenster. Der D. sagt “hast du’s wieder geschafft”, damit auf ihre lebenslange Kunstfertigkeit anspielend, aus vorhandenen Strukturen das Beste für sich selbst herauszuholen, und zwar ohne Gesetzesbruch und ohne Irritationen im sozialen Gebälk. Ich sage, “du hast sogar einen Blick auf den Hubschrauberlandeplatz”, wo am Dach des Nebengebäudes vor wenigen Minuten der knallgelbe Rettungshubschrauber gelandet ist. Wir machen Witze, wo wir jetzt allein mit ihr sind, darüber, dass sie sich wahrscheinlich denkt, oh nein, jetzt sind die Trotteln schon wieder da, warum können die mich nicht endlich in Ruhe lassen. It would not be out of character.
Ihre Hände sind wärmer an diesem Tag, dafür sind die Atempausen länger. Ich atme eine Zeit lang in ihrem Rhythmus mit, halte das aber nicht lange durch; zu kraftvolle Atemzüge in zu kurzer Folge. Alle Achtung. Für mich ist das wie Hyperventilieren. Anstrengend. Da sind Schweißperlen auf ihrer Stirn, an ihrer Nase, an den Wangen, in den Kuhlen über den Schlüsselbeinen. Die schwüle Luft? Wir öffnen zusätzlich zum gekippten Fenster die Tür. Wir besorgen weiche, saugfähige Lappen, mit denen wir immer wieder Schweiß von ihrer Haut tupfen. Die Freundin vom Sohn vom D., die mit der Zweijährigen am Arm, spielt ihr vom Handy Musik vor. Warum habe ich nicht früher daran gedacht? Sie mochte romantische Klassik, sie mag romantische Klassik.
Am Nachttisch steht eine Flasche Hautöl, benannt Wegebegleitungsöl (Mandelöl, Neroli, Rose, Rosengeranie, Sandelholz). In der Werbeprosa auf der Website der Herstellerfirma wird als Einsatzzweck tatsächlich auch die “würdevolle Begleitung des letzten Lebensabschnittes” erwähnt. Als ich an dem Öl rieche, plötzlich ein Aha-Moment. Genau das ist der Geruch, der mir seit dem Vortag im Vierbettzimmer nicht mehr aus der Nase ging. Der Geruch kam von ihr, das war klar, aber ich wußte nicht, wodurch bedingt. Er war leicht medizinisch, leicht organisch, uneindeutiger Genese. Er hatte sich in meiner Nase festgesetzt und war überall, im Eisenbahnwaggon am Rückweg, in der U-Bahn, im Kaffeehaus, im Badezimmer zu Hause. “Da, der Geruch”, sage ich zum D., und er riecht an dem Öl und sagt, genau, den Geruch hätte er in den letzten Tagen die ganze Zeit in der Nase gehabt, immer, überall. Tod riecht anders, sage ich. Genau, sagt er.
Ich hatte einen Text geschrieben, den ich ihr ursprünglich hatte vorlesen wollen. Es war ein Abschiedstext. Aber es fühlt sich nicht passend an, ihr etwas vorzulesen. Es ist dies eine Situation, die ein direktes Sprechen verlangt, ein Ansprechen mit einer Stimme, die ihren Körper manchmal anflüstert, manchmal umspielt, manchmal verlockt. Es ist eine Situation, in der sich kurze Sätze sagen lassen, die sich wiederholen, mit kleinen Variationen. Sätze, die Berührungen begleiten, eine Art Musik. Es fühlt sich auch nicht passend an, sich zu verabschieden. Sie ist schon in einem Zustand, in den ich mit meiner Biologie nicht hinkomme, so von der Vorstellung her. Da ist eine Barriere, da ist jetzt schon ein Jenseits. Was sollst du ihr da wünschen, was sie nicht schon viel besser weiß? Was sollst du ihr da wünschen, was sie nicht schon lebt, was sie nicht noch lebt? Es ist eine Art Respekt vor ihrem Zustand, den ich empfinde, und der gebietet, dass ich mich gerade nicht verabschiede. Als ich gehe, sage ich “mach’s gut”, und ich meine das wie ein lockeres “bis zum nächsten Mal” und lasse die Dinge schweben. Wir beide brauchen keine Endgültigkeit in unserem Verhältnis.
Zwei Tage später ruft mich der D. an, recht spät am Abend. Ich muß nicht abheben um zu wissen, was geschehen ist. Wäre es etwas anderes, hätte er mir eine WhatsApp-Nachricht geschickt, so, wie am Tag davor, als ich ihn, ebenfalls per WhatsApp, auf die Cheyne-Stokes-Atmung hingewiesen hatte und er mir, ohne dass wir das Thema ihrer Atmung zuvor überhaupt besprochen hätten, sofort einen genauen Bericht über ihren Atemrhythmus an diesem Tag schickte, jeweils um 11, um 15 und um 18 Uhr. Auch jenen Tag hatte er fast ganz bei ihr verbracht, und er hätte den Eindruck gehabt, da wäre noch etwas gewesen, das sie davon abgehalten hätte loszulassen. Auch die Schwestern hätten dies bestätigt. Es sei in ihrem Zustand ungewöhnlich, dass da noch einen ganzen weiteren Tag geatmet wurde. Da müsse noch etwas sein. Auch an dem Tag, an dessen Abend sie dann starb, hätte er ursprünglich ins Krankenhaus fahren wollen, sagt der D., doch er wäre sehr erschöpft gewesen und seine Frau hätte gemeint, vielleicht wären es die Besuche, die sie sie davon abhalten würden, loszulassen. Ein Priester kam übrigens an diesem Tag auch noch vorbei. Hatte sie vielleicht darauf gewartet?
Am Telefon sprechen wir uns die Situation zurecht, so, wie man sich als Humanoider Situationen zurechtspricht: Wir schreiben Intentionen zu und legen Rationalitäten zugrunde, um das Mysteriöse ihres Zustandes zu erfassen, in dem rein biologisch keinerlei willensgesteuertes Handeln mehr erfolgen kann. Der D. spricht oft von ihrem starken Willen, auch jetzt noch. Ich widerspreche ihm nicht, denn es ist nicht wichtig das zu tun. Ich pflege still mein eigenes Zurechtdenken. Sie wollte ihre Ruhe haben, auch wenn sie sich sehr oft beklagte, dass man sie nicht genug besuchte. Sie war gerne alleine, und vielleicht wollte sie alleine sterben. Angehörige verarbeiten ihren Kummer über das Sterben ihrer Lieben oft dadurch, dass sie bei den Sterbenden sein zu müssen glauben, wenn diese ihre letzten Atemzüge tun. Sie nicht allein zu lassen, sie zu begleiten, ohne sie natürlich im Wortsinn zu begleiten. Womöglich würden Sterbende oft gar nicht begleitet werden wollen, könnten sie noch reden und Wünsche äußern, könnten sie noch Wünsche haben. Vielleicht wäre da ein lautes “so, jetzt schleicht’s eich oba” oder ein höflicheres “ihr habt’s doch sicher noch was zu tun, oder? Lasst’s euch doch von mir nicht abhalten”. Und dann, endlich allein, ein wenig noch Weiteratmen in der Stille der Gemeinschaftslosigkeit, gefolgt vom Aufatmen einer letzten Erleichterung. Godspeed.