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- 17 07 2002 - 23:31 - katatonik

Untypisch Beschäftigte

In Österreich gibt es zur Zeit zwei Initiativen, die sich den sozialen Schutz “untypisch Beschäftigter” zum Ziel setzen: Der Österreichische Gewerkschaftsbund bietet mit “FlexPower” Erstberatung in Vertrags-, Steuer- und Sozialrecht an, und die Gewerkschaft der Privatangestellten bietet das Programm “work@flex” an. Es geht um Interessensvertretung, Rechte, Information.
Die Schwierigkeiten, die zumindest einige Mitarbeiter dieser Institutionen mit solch untypischen Arbeitsverhältnissen haben, mag folgende Anekdote illustrieren.
Eine Bekannte (echt!) ist derzeit im Rahmen eines Werkvertrags bei einem Kulturunternehmen beschäftigt; de facto arbeitet sie aber wie eine volle Angestellte, mit Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, aber ohne gehörige Gegenleistung (Arbeitslosenversicherung, Pensionsversicherung, Urlaubsanspruch und so weiter).
Sie denkt also, das kann so nicht weitergehen und läßt sich beim ÖGB beraten. Sie schildert der Beratungsperson ihren Fall.
Die Beratungsperson rät ihr, sie solle sich nicht beschweren oder aufregen, weil im Vergleich zu KronenZeitungs-Kolporteuren – die auch so genannte “Scheinselbständige” sind – ginge es ihr ohnehin noch gut.
Wieder einmal ist eine aufrechte Bürgerin mit dem so genannten “Sahelzone-Knockout-Argument” vom Geltendmachen berechtigter Ansprüche abgehalten worden.

Sahelzone-Knockout-Argument: Wenn jemand sich über irgend etwas beschwert, berechtigt oder nicht, und sie wollen damit nichts zu tun haben, sagen sie einfach, er oder sie solle doch froh sein, nicht in der Sahelzone zu leben. Dort würden Kinder verhungern.


Ich bin aus der Gewerkschaft ausgetreten, nachdem sie nicht in der Lage war, meine Mitgliedschaft nach meinem Umzug ins Ausland ruhen zu lassen. Sie scheint es nicht nötig zu haben. Die Gewerkschaften sind die Kristallisation der Krise der Linken.

gHack (Jul 18, 12:33 am) #


In Österreich sind sie die Kristallisation der Krise der Sozialpartnerschaft. Auch ein Symptom der "österreichischen Krankheit der Un-Öffentlichkeit, des erheuchelten, erzwungenen Konsens" (Armin Thurnher im aktuellen "Falter", in anderem Kontext)..

katatonik (Jul 18, 12:41 am) #


Das Problem ist, dass die meisten Leute einfach gegen die Gewerkschaft votieren, indem sie gar nicht beitreten oder sie verlassen. Dabei sind Gewerkschaften gerade heute wertvoll, oder könnten es sein, wenn sie sich vom Korporatismus weg und hin zur Betreuung von Individuen wenden könnten. Ich bin nicht dafür, die Gewerkschaften abzuschaffen oder zu schwächen, sondern sie den neuen Gegebenheiten anzupassen. Wenn sie letzteres nicht tun, werden sie eh verschwinden. Im Gemauschel hintenrum nehmen sich Österreich und Bayern nichts. Die Dummheit der Regierten besteht dann darin, dass sie das Unöffentliche für effizient halten, weil sie mit aktuellen Fragen der Zeit nicht in ihrer Gemütlichkeit belästigt werden.

gHack (Jul 18, 12:56 am) #


Heikel wird's nur dann, wenn zur Debatte steht, was genau eigentlich eine Anpassung der Gewerkschaften an neue Gegebenheiten darstellt. Prinzipiell bin ich natürlich Deiner Meinung, wie eh fast immer (es wird schon langweilig, ich weiß. Noch ein Cocktail gefällig, der Herr?)
Sowohl Grüne als auch FPÖ haben, glaube ich, in Österreich wesentlich Anziehungskraft durch allgemeine Unzufriedenheit mit der Sozialpartnerschaft gewonnen, und zwar bei Wählern, die im ÖGB eine Ansammlung von verstaubten Betonschädeln sehen. Die Gründe dafür sind in der Wählerklientel sehr unterschiedlich (Öko- und Gesellschaftsliberalismusbewegte vs. Neoliberalismusbeseelte & "Systemabschaffer"), aber das Phänomen ist glaub ich gleich.
Was, so weit ich weiß, Ö von D unterscheidet, ist die enorme Parteienverflechtung von Gewerkschaften und Subgewerkschaften in Ö. Auch das hat sowohl Grünen als auch FPÖ viele Stimmen gebracht. Im Referenzwerk "Österreichische Politik" steht über den ÖGB zu lesen: "Die Überparteilichkeit des ÖGB äußert sich nicht in einer Abkopplung von den Parteien, sondern durch eine Verflechtung mit mehreren Parteien".
Dieses Prinzip kann man praktisch auf alle derzeit stattfindenden Diskussionen über "Entflechtungsprozesse" umlegen, auch auf die Berichterstattung des ORF: Überparteilichkeit = alle Parteien kriegen ein bisserl was. Ich halte das ja für eine der schädlichsten politischen Eigenarten dieses Landes: die Unfähigkeit, Überparteilichkeit überhaupt zu denken.

katatonik (Jul 18, 01:09 am) #


offtopic: dear birgit, würdest du mir das last-comment-skript wieder zurückschicken, damit ich sehen kann, wie du die ersten zeichen der kommentare da auch noch reinbekommst? merci vielmals im voraus.

roland (Jul 18, 01:54 am) #


Mein Problem mit Gewerkschaften ist eher, dass sie mir den eindruck vermitteln sie wuerden in verhandlungen und ihrem tun mehr um ihren einfluss/geld/bestand kaempfen, denn um die interessen ihrer mitglieder. Ausserdem glaube ich nicht, dass flaechentarife sehr sinnvoll sind, in einer staerker heterogenierenden (:-) gesellschaft.

funzel (Jul 18, 10:22 am) #


Ich kenne die Lage in Deutschland nicht. Aber wenn ich die Situation in Österreich vor meinem geistigen Auge paradieren lasse, scheinen mir dubiose Eigeninteressen von Gewerkschaften das geringere Problem zu sein, obwohl es die sicher gibt.
Die schleichende (und kaum noch verheimlichte) Demontage von Sozialstandards, arbeitsrechtlichen Standards, und dass immer mehr Leute zur Wahrung von Scheinstatistiken in Selbständigkeit und unternehmerisches Dasein gedrängt werden, ohne dass die Bedingungen dafür gegeben wären, und dass gewisse Großunternehmer in ihren Betrieben Betriebsräte einfach so abschaffen und es daher keinerlei Interessensvertretung der Arbeitnehmer gibt - das sind die Probleme, die zu diskutieren derzeit weit wichtiger ist, glaube ich. "Flächentarife?" Ich wäre froh, wenn durchgesetzt wäre, dass Menschen nicht unter dem Kollektivvertragslohn arbeiten.
Habe ich übrigens bereits erwähnt, dass unter dieser Regierung sinnigerweise die Agenden von Arbeitnehmern und -gebern in einem Ministerium (Wirtschaftsministerium) gebündelt wurden? Deutlicher kann man seine politische Ausrichtung kaum zu erkennen geben.

katatonik (Jul 18, 10:39 am) #


Ein Bekannter ;-) von mir hat mit der IG Medien (heute: verdi) vor ein paar Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht. Bei einer Zeitschrift als Freier beschäftigt (de facto halbtags, mit eignem Schreibtisch etc. und also scheinselbständig), wollte er sich einfach über seinen Urlaubsanspruch informieren. Der Gewerkschaftsberater für Freie hat zu ihm eben nicht gesagt: "Für jemand wie dich sind wir nicht zuständig" oder "Oh, du bist ja scheinselbständig! Dagegen müssen wir klagen!", sondern hat ihm erklärt, wie er diesen Anspruch in seiner speziellen Situation am besten geltend macht.
Wenn du so einen Job hast, ist es doch meistens so: Entweder du lässt dich auf die Spielregeln ein (keine Sozialversicherung etc.) oder du bist den Job los bzw. bekommst ihn gar nicht erst. Und da braucht es eine Gewerkschaft, die diese Art von Pragmatismus versteht.

bov (Jul 19, 12:41 am) #


Da ist was dran. Es ist ja ein verdammtes Dilemma, gerade bei Zeitschriften usw., die man selber gerne liest: Für die zu arbeiten bringt kaum Kohle; Arbeitsrecht ist da auch nicht umzusetzen, weil die sich die Lohnnebenkosten nicht leisten können, oder das zumindest sagen.
Oder weil es dann heißt "wenn ihr uns klagt, machen wir halt zu", oder noch schlimmer: "eure klagen sind der sargnagel der medialen öffentlichkeit dieses landes". (österreich ist klein, da ist bald was ein sargnagel. sogar die kleinschreibung.)
deshalb sehen solche medien dann oft zwar aus wie jungbrunnen sich stets erneuernder kreativität, de facto sind sie aber nur fluktuationsröhren für sich abwechselnde generationen von jungjournalisten, deren selbstausbeutungsbereitwilligkeit irgendwann ihre grenzen hat. auch eine art von "mcjob" eben.

katatonik (Jul 19, 12:51 am) #


Journalismus ist eh der hinterletzte Job.

gHack (Jul 19, 10:25 pm) #


Auch "hinterletzt" ist ein steigerbares Adjektiv.

katatonik (Jul 20, 01:57 am) #

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