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- 27 05 2003 - 10:22 - katatonik

Dichter und Disketten

Andreas Bernard bespricht die Konsequenzen, die ein nur noch digital vorliegendes literarisches Vermächtnis für die Literaturwissenschaft hat. Anlass ist der Nachlass von Thomas Strittmatter (verstorben 1995), der aus Zeitungsausschnitten, handschriftlich korrigierten Computerausdrucken seiner Texte und enem Atari SM 124 mit zwei bis drei Dutzend Disketten besteht.
Der Nachlass wurde vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach erworben.

Bernard zählt lose eine Reihe von Bereichen auf, in denen sich die Bearbeitung des digitalen Nachlasses von herkömmlichen Methoden unterscheidet: der Status des Originaltextes, der Arbeitsvorgang im Kontext wissenschaftlicher Institutionen (notwendige Zusammenarbeit der Literaturwissenschaftler mit EDV-Spezialisten), die Bedeutung unterschiedlicher Textfassungen, die Entstehungsbedingungen der Texte, sowie die Praxis der Benennung (Jede Datei müsse benannt werden, aber Texte könnten auch unbenannt bleiben).

Schön:

“Dass literarische Tradition und kommunikationstechnischer Status Quo hier zu kollidieren drohen, zeigte in Marbach etwa der Umgang mit Strittmatters Disketten nach erfolgreicher Sicherung. In den Augen der Techniker unnötiger Abfall, waren sie fast schon auf dem Weg zur Entsorgung, als sich die Literaturwissenschaftler der Bedeutung dieses letzten Rests an Materialität bewusst wurden. Neben dem Computergehäuse selbst sind die Disketten – die nicht nur Texte enthalten, sondern auch Datenbanken, Anti-Viren-Programme und Spiele – der einzige exponierbare Teil des Nachlasses.”

Auch schön:

“Wobei Strittmatters technische Ausrüstung noch keinen Hinweis auf die vermutlich schwierigste Frage der Editionsphilologie im 21. Jahrhundert gibt: Wie auf das Verschwinden von Briefausgaben reagiert werden soll. Strittmatter schrieb keine E-Mails; das Problem der Sicherung gegenwärtiger Dichterkorrespondenzen kann in diesem Zusammenhang also noch nicht diskutiert werden. Heinz-Werner Kramski, der Chef der EDV-Abteilung, macht jedoch beim Abschied noch einen Vorschlag: Man sollte einer Anzahl von Autoren einen Account in Marbach einrichten. Sämtliche E-Mails gingen dann als Blindkopie direkt ans Archiv.”

– “Schatz, kommst Du ins Bett oder dichtest Du noch?” – “Moment, bin gleich fertig. Nur noch eine Mail fürs Archiv schreiben.”


Nur eine kleine Klugscheisserei dazu: Der Atari SM 124 ist kein Computer, sondern ein Schwarzweissmonitor und _der_ Grund dafür, warum sich viele Textarbeiter, ich eingeschlossen, einen Atari ST gekauft haben. Der SM 124 war für seine Zeit nämlich aussergewöhnlich flimmerfrei (70Hz horizontale Bildwiederholfrequenz) und erlaubte längeres Arbeiten ohne Augenermüdung, wobei der Text ergonomisch korrekt schwarz auf weiss dargestellt werden konnte und nicht, wie seinerzeit durchaus noch üblich, grün oder bernstein auf schwarz. Der Computer zum Monitor war ein Atari ST mit 68000er Prozessor. Diese Rechner wiederum sind für Literaturarchive - im Gegensatz zu ihren direkten Konkurrenten, den Commodore Amigas - ein wahrer Segen, denn die Ataris speicherten ihre Daten in einem DOS-kompatiblen Dateisystem. Man kann also auf die handelsüblichen 3,5"-Disketten ohne Emulator oder ähnliche Stunts zugreifen und die Texte rausholen. Dann bleibt halt die Frage, ob es für Atari-Textverarbeitungen wie 1st Word Plus oder Signum noch Filter gibt.

gHack (May 27, 10:41 am) #


Zitat aus dem Artikel: "Heutige Programme sind jedoch nicht ohne weiteres in der Lage, Atari-Dateien aus den achtziger Jahren zu konvertieren, und es bedurfte der langwierigen Arbeit von Spezialisten, um die Texte lesbar zu machen." Das muss dann wohl an der Atari-Textverarbeitung gelegen haben, nicht am Datenträger.

katatonik (May 27, 11:35 am) #


die die daten damals sicherlich noch nicht komprimiert waren und der zeichensatz doch sehr begrenzt, kann es so schwer wohl nicht gewesen sein. unicode wär fürs "per hand" durcharbeiten wahrscheinlich schlimm.

mich wundert nur, dass die disketten nach so langer zeit noch lesbar waren ... meine amiga-disks damals sind meist schon nach wenigen monaten ("unsachgerechte behandlung") eingegangen.

stefan (May 27, 11:56 am) #

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