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- 3 07 2022 - 17:58 - katatonik

Scrobbeln 2022 (kann Spuren von Spuk enthalten)

Das Audioscrobbeln ist ein Relikt der optimistischen Internetzzeit der frühen 2000er Jahre. Damals glaubte man noch eher, dass Vernetzung in Gemeinschaften und Teilen von Informationen uneingeschränkt erstrebenswerte Ideale waren. Die Kapitalisierung von Datenströmen war weniger stark ausgeprägt, die Plattformisierung des Internets lag noch in der Zukunft. last.fm trat 2005 auf den Plan, gleich nach Flickr (für Fotos). last.fm bot die Möglichkeit, Metadaten von digital gehörter Musik auf einen zentralen Server zu transferieren, das nannte man “Scrobbeln”. Darauf aufbauend erzeugte das System Empfehlungen und stellte Verbindungen zu anderen Accounts mit ähnlichem Geschmack her; damit verbunden war auch ein Event-System, das über Konzerte gern gehörter Künstler und Bands informierte.

Man konnte und kann auch sehen, was andere Accounts hören, und zwar über den gesamten Zeitraum ihrer Existenz — “ich weiß, was du am 30.12.2005 um 15:30 gehört hast” (bzw. um genau zu sein: was auf einem Gerät gehört wurde, das mit deinem Account verbunden war, während du selbst möglicherweise in Ouagadougou herumsaßest und ganz digitalbefreit Heavy Metal hörtest). Klar, man fühlte sich komisch dabei, live mitzuerleben, wer gerade was hört, fühlte sich unangenehm voyeuristisch dabei, aber man genoss doch auch die Welten, die sich da erschlossen, das Neue, das man entdecken konnte, durch Personen verbrieft, auf deren Geschmack man vertraute, aus Gründen, und man selbst stellte gern zur Verfügung, was andere interessieren konnte.

Das Ganze ebbte irgendwann ab. Accounts auf last.fm blieben. Viele der mir damals bekannten sind heute inaktiv, aber noch existent und wohl nicht selten einfach vergessen; ein paar sind auch heute noch oder wieder aktiv. Auf manchen Accounts dürfte mittlerweile der Nachwuchs scrobbeln; es gibt Wickie und Disney statt dem letzten heißen Erwachsenenscheiß. Es gibt aber immer noch ein Universum da, das beim Entdecken hilft. Dieses Universum ist offen; es ist keine geschlossene Plattform wie spotify.com, für die man bezahlen muss und die Musiker*innen schlecht bezahlt. Auf last.fm wird nicht gestreamt, aber es gibt Youtube-Links, wo es sie eben gibt. Es gibt auch Pro-Accounts mit mehr Auswertungen und Funktionen, aber die Plattform wirkt angenehm unprätentiös. Etwas über-statistikgetrieben und mit leicht lächerlichen Anreizen versehen — als ob es eine Errungenschaft wäre, diese Woche mehr Tracks zu scrobbeln als letzte —, aber unschlüssig, halb am Weg zur Durchkapitalisierung der User steckengeblieben, das ist heute ja durchaus sympathisch. An ein Forum kann ich mich von anno dazumals noch erinnern, aber das scheint nicht mehr zu existieren. Man kommuniziert mit anderen Usern der Plattform nur über Ansicht oder Folgebekundung, es gibt keine Likes oder ähnliche kleinteilige und auf die binäre Struktur von Zustimmung und Ablehnung reduzierte Interaktionsformen, das ist angenehm und bewahrt in seiner Schweigsamkeit das Mehrdeutige, Offene.

Derzeit führt mich fast jedes Thema zum Thema Geister, so auch die Sache mit dem Scrobbeln. Geister sind Formen unerklärlicher Wirksamkeit, und da hat das Scrobbeln heute Einiges zu bieten, also echt. Ich streame gelegentlich von einem wohnungsinternen UPnP-Server, gelegentlich von einem Endgerät, gelegentlich über die Plattform Tidal, zu der ich von Spotify gewechselt bin, weil sie Künstler (etwas) besser bezahlt. Gelegentlich wird über Kopfhörer gestreamt, manchmal aber auch über ein Sonos-System drahtlos auf Lautsprecher. Damit beginnt die geisterhaft-spukhafte Interaktion von Plattformen, mit der sich Ethnologen noch in Jahrzehnten befassen werden, sofern uns bis dann der Planet nicht weggebrutzelt sein sollte.

Wenn die Tidal-App am Handy läuft, begleitet von einer eigenen last.fm-Scrobble-App, dann klinkt sich die Sonos-App gerne ein und übernimmt die Kontrolle. Das bedeutet, dass das Interface der Tidal-App dann unreaktiv wird. Es bedeutet aber auch, dass der last.fm-Scrobbler beginnt, beim Scrobbeln den Namen des Raumes, in dem der Lautsprecher steht, mitzuscrobbeln (sowas Fantasieloses wie “Wohnzimmer” halt), was für die Scrobbelei nutzlos und nur mit einem sehr eigenen Humorverständnis witzig ist. Es kommt auch vor, dass das Streamen wirklich nur noch von Geisterhand läuft: Die Tidal-App beginnt wie gewünscht mit einem Shuffle durch die Lieblingstracks, irgendwann ist sie dann nicht mehr reaktiv, die Sonos-App zuckt die Schultern und sagt “mein Bier ist das nicht”, der Scrobbler verabschiedet sich, aber die Musik spielt einfach weiter. Sie hört nicht einmal auf, wenn ich das Mobiltelefon neu starte, auf dem die Tidal-App läuft, und kann nur durch feindliche Kontrollübernahme von einem anderen Gerät gestoppt werden.

Das enttäuscht mich fast; die Idee eines unstoppbaren Musik-Algorithmus, der sich beinhart akustisch in der Wohnung einnistet und nicht mehr stillzukriegen ist, hat doch wieder was. Man stelle sich vor, welch befreiende Wirkung sowas auf den Immobilienmarkt hat: Wohnung billig zu vermieten, weil halt leider der Tidal-Algo auf einer Heavy-Metal-Playlist hängen geblieben ist, tut uns leid, kriegen wir nimmer raus. Oder: “Können Sie gut mit Xenakis in Dauerbeschallung?”

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