Schreiben über Sympathien
“Denn wer behauptet, diese oder jene Facette der islamischen Geschichte oder der heutigen islamischen Welt habe mit dem Islam in Wirklichkeit nichts zu tun, sagt zugleich, daß es einen “eigentlichen” Islam gibt, dessen alleinige Grundlagen, den Koran und das Prophetenvorbild, man nur “richtig” zu interpretieren brauche. Was damit nicht übereinstimmt, wird so zur unstatthaften Abweichung, zur Außerkraftsetzung dieses “wahren” Islams. Das aber ist nur die Rückseite einer Medaille, auf deren Vorderseite die Fundamentalisten zum selben Ergebnis kommen. Ganz abgesehen davon, daß sich hier ein unlösbarer Widerspruch auftut: Einerseits weist man – zurecht – darauf hin, daß die islamische Welt mit ihrer Ausdehnung von Westafrika bis nach Südostasien und die islamische Kultur mit ihren fast 1400 Jahren Geschichte viel zu große Gebilde seien, als daß man sie über einen Kamm scheren könnte. Zugleich aber beteuert man gebetsmühlenhaft, daß der Islam an sich friedlich und tolerant sei – eine essentialistische und ahistorische Betrachtungsweise, die man sich in bezug auf das Christentum, das zwischen Bergpredigt und Inquisition oszilliert, kaum noch leisten könnte …
Wenn überhaupt, dann wird die religiöse Rechtfertigung der Fundamentalisten nicht dadurch unglaubwürdig, daß man deren Koranzitaten andere, “sympathischere” entgegenhält und sich damit im Kreise dreht. Statt dessen ist eine grundsätzliche Neubewertung des Stellenwerts der religiösen Quellen erforderlich. Diese bestünde in dem Bemühen (auch und erst recht auf muslimischer Seite), die Fundamente des Glaubens, Koran und Prophetenvorbild, zu historisieren, sie aus ihrer Überzeitlichkeit und bedingungslosen Absolutheit herauszulösen.”
Rainer Brunner, “Gesprächsfähig? Islamischer Fundamentalismus”.
Wie allerdings der Beginn des Artikels zeigt, führt die Ablösung ahistorischer durch historische Betrachtungsweisen allein noch nicht aus Kreisläufen heraus. Man zitiert dann eben nicht sympathische und unsympathische Koranstellen, sondern verweist auf historische Vorfälle, bei denen sich sympathisches und – in Brunners Fall – unsympathisches Verhalten muslimischer Herrscher und religiöser Vertreter zeigt.
Dass es darüber hinaus gerade Aufgabe von Muslimen sein soll – von muslimischen Politikern oder politischen Muslimen? Von Mullahs oder Islamwissenschaftlern? -, die Fundamente ihres Glaubens zu historisieren, bedürfte genauerer Überlegung.
Kein katholischer Priester historisiert Jesus in seinen Predigten in dem Sinn, dass die Motivation für religiöse Lehren aus den geschichtlichen Bedingungen im israelischen Gebiet der damaligen Zeit hergeleitet wird oder auch ihr Geltungsbereich auf die damalige Zeit beschränkt wird. Vermutlich ist auch kein protestantischer Priester bemüht, im Glaubensgespräch auf die historischen Entstehensbedingungen seiner Religion einzugehen. Nein, der Witz liegt wohl nicht in einer Historisierung, die man von Religionsvertretern selbst verlangen könnte oder müßte, sondern vielmehr in der Aufgabe des Anspruchs, dass die Sicht der Religionsvertreter die einzige ist, aus der über Religion gesprochen werden kann.
Da liegt vermutlich tatsächlich eine Schwierigkeit im heutigen, westlichen Umgang mit dem Islam: In jahrzehntelanger Kolonialismus- und Kulturimperialismuskritik scheint man sich allmählich zur Anschauung durchgerungen zu haben, nur Angehörige von Kulturen dürften eigentlich über diese sprechen und alles andere wäre arrogante Anmaßung von Fremdrepräsentation. Ich bin ich, und nur ich rede über mich, du hast da nix zu sagen, weil du nicht eigentlich weißt, wie ich mich fühle.
Dass eine konsequente Umsetzung dieser Auffassung bei Religionen fatale Folgen haben kann und wohl auch hat, ist in veröffentlichten Diskussionen, so scheint mir, bislang weitgehend übersehen worden. Oder?
Ich bin zwar keine veröffentlichte Diskussion, sondern nur ein Mit-Sich-Selbst-Sprecher, aber genau DAS habe ich nie übersehen. Im Gegenteil: ich bin geradezu unangenehm manisch darauf fixiert, das nicht zu übersehen. Noch weniger übersehen kann ich nur die, die KEINE Angehörigen einer Kultur, Religion oder eines sonstigen Identitäts-Vereins sind, mir aber dauernd sagen, dass ich nicht über diese Vereine sagen darf, weil ich nicht dazu gehöre und deswegen nicht wisse, wie sie sich WIRKLICH fühlen. Was ich wiederum eh nie bestritten habe, aber andererseits so wichtig mir nicht zu sein scheint.
Ist es übrigens nicht spannend, dass genau diese Position so häufig in den Diskussionen jetzt auftaucht? Dass man sich darum bemühen solle, zu verstehen, wie jemand sich FÜHLT? Mir kommt das nämlich immer wie etwas sehr "Westliches" vor, fast wie etwas "Amerikanisches" - self empowerment psychology, Hauptsache, du fühlst dich okay usw. -, und deswegen irgendwie quer zum Anliegen, das Fremde, Andere zu "verstehen". Klar ist das nur eine psychologische Version des Anerkennungs-Motivs, aber ich bezweifle, dass erstens die psychologische Reduktion sehr nützlich ist (weil sie meistens doch nur zum Schultzerklopfen führt), und dass zweitens es überhaupt Anerkennung sein muss, um die es notwendigerweise geht - es könnte ja auch darum gehen, dass jemand z.Bsp. schlicht und einfach MACHT haben will und ihm die Internalisierung so was von egal ist. Könnte doch sein...