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- 10 03 2002 - 20:41 - katatonik

Von Zügen und Grenzen

“Der naheliegende Fluchtweg führte in die Tschechoslowakei. So war der am 11. März 1938, gerade zur Stunde des Umbruchs, nämlich um 23 Uhr 15, [von Wien] abfahrende Zug nach Prag zum Bersten voll. Der bekannte englische Journalist George E. Gedye erinnert sich in seinem Buch «Als die Bastionen fielen»: «‹Rette sich, wer kann› war die allgemeine Losung nach der Abschiedsrede, aber Rettung war praktisch aussichtslos. Alle Landstrassen, die zur Grenze führten, waren von Taxis und Privatautos der Flüchtlinge verstopft. Auf dem Flughafen ebenso wie auf den Bahnhöfen drängte sich ein buntes Gemisch von Fürsten, Bauern und armen Leuten, von weltbekannten Bankiers und unbekannten Proletariern, Juden aus höchsten wie aus den niedersten Kreisen, Offizieren des Bundesheeres, von Polizeibeamten und jenen Kommunisten und Sozialisten, die sie verhaftet und bestraft hatten; katholische Priester, Staatsbeamte und Journalisten – sie alle suchten verzweifelt, auf dem abfahrenden Zug einen Platz zu erobern.» Mit Verspätung fuhr der Zug ab, nicht ohne dass vorher die Insassen von SA-Männern gequält und bestohlen worden waren.
Der Zug hielt dann auf offener Strecke, wurde nochmals nach Wien zurückgeschickt, abermals fielen Siegestrunkene mit Nazi-Emblemen über die Flüchtlinge her. Dann erst konnte der Zug endgültig seine Fahrt ins Nachbarland antreten. Die österreichische Zoll- und Passkontrolle trug freilich auch schon die Hakenkreuzbinden – man liess den Zug passieren. Endlich war der rettende Boden der Tschechoslowakischen Republik, der Boden eines freien Landes erreicht – da dröhnt eine Stimme mit böhmischem Akzent durch den Zug: «Alle Personen mit österreichischen Pässen haben auszusteigen und sich in den Wartesaal zu begeben.» Nachdem diese Unglückspässe durch die tschechische Polizei den Inhabern abgenommen worden waren, ertönte abermals dieselbe Stimme: «Ich habe eben vom Innenministerium dem tschechischen die Weisung erhalten, dass alle Österreicher ohne Ausnahme bei der Grenze zurückzuweisen sind. Sie müssen alle hier warten und mit dem nächsten Zug zurückfahren.»
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Es bestiegen den Zug der aus Brünn stammende berühmte Kabarettist Fritz Grünbaum, der hohe Wiener Polizeibeamte Ludwig Weiser – er war bis vor wenigen Stunden ein mächtiger Mann gewesen -, die Kaufmannsfamilie Krupnik, einer der Erfinder des Erfolgsprogrammes des «Roten Wien», der ehemalige Stadtrat Robert Danneberg mit seinen Kindern, der Journalist und Feuilletonist Richard Bermann alias Arnold Höllriegl und eben das Ehepaar Karl Hans und Erna Sailer.
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Erna und Karl Hans Sailer sollen aus dem fahrenden Zug kurz vor der Wiener Stadtgrenze abspringen. Ihr Leben war vorerst einmal gerettet. Mit viel Geschick konnten sie einige Tage später mit falschen tschechoslowakischen Papieren die Schweizer Grenze passieren. Robert Danneberg wird in Wien inhaftiert, sein durch die Fluchtstrapazen gezeichnetes, müdes Porträt affichieren die siegeshungrigen Nazis auf den Strassen Wiens. Er wird die Freiheit nie mehr erlangen. Mit dem ersten Deportationszug, der von Wien nach Dachau führt, ist er dabei, ermordet wird er 1942 in Auschwitz. Das Schicksal Ludwig Weisers war ähnlich. Fritz Grünbaum wird ins Polizeigefängnis gebracht, von dort über Dachau weiter nach Buchenwald und wieder zurück nach Dachau, wo er 1941 umkommt. Nicht einmal ein Namensschild unter den Bildern seiner geraubten Kunstsammlung soll im kürzlich eröffneten Museum Leopold in Wien an ihn erinnern.”

Quelle



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