Der freie Wille und seine Betrachtung
”.. dieses Dilemma hat eine Eigenschaft … : es kommt bei ihm recht häufig vor, daß ein und dieselbe Person sich in gleichem Maße an beide der allem Anschein nach unverträglichen Positionen gebunden fühlt. Montags, mittwoch und freitags ist man fest davon überzeugt, daß es den freien Willen gibt; dienstags, donnerstags und sonnabends ist man fest davon überzeugt, daß es für jede mögliche Handlung eine Kausalerklärung gibt, oder daß es zumindest doch möglich sein müßte, sie zu finden. Und selbst wenn man alles versucht, um sich eine der beiden Ansichten aus dem Kopf zu schlagen, wird man in der Regel feststellen, daß die entsprechenden Beteuerungen irgendwie laut (weil hohl) klingen. Im Grunde würde man viel lieber sagen, daß man beides für richtig hält, als sich zu einer Entscheidung zwischen den beiden Behauptungen zu bequemen, daß es für das menschliche Handeln keine Kausalerklärungen gibt, oder daß man niemandem aus seinen Handlungen einen Vorwurf machen kann.”
Gilbert Ryle: “Begriffskonflikte”. (orig. “Dilemmas. The Tarner Lecture 1953”, Cambridge University Press 1954). Kleine Vandenhoeck-Reihe, Göttingen, 1970.
Ryle beschäftigt sich mit der Frage, warum wir gelegentlich den Eindruck haben, zwei Positionen könnten nicht gleichzeitig vertreten werden, obwohl sie nicht logisch miteinander unvereinbar sind. Das führt notgedrungen zu Erörterungen des Verhältnisses zwischen der “Welt der Wissenschaft” und der “normalen Alltagswelt”, sowie professionellen und nichtprofessionellen Begriffen. Sehr sympathisch finde ich dabei, dass nicht eine Inkommensurabilität von Welten oder Feldern ausgerufen wird, die dann Kommunikation verhindert, sondern dass die Gründung professionellen Redens in gewöhnlicher Sprache ernstgenommen wird. Daraus ergibt sich dann gleich ein ganz anderes Verhältnis von Alltagssprache zu Theorie.