Der Abend vor dem Tag der Arbeit
Am Abend vor dem Tag der Arbeit ging ich zu einem kleinen Konzert elektronischer Musik irgendwo in einem Studio. Freunde organisierten das; es gab merkwürdigen Wein, guten Wein, viel Bier und gutes Essen (subtile Weiterentwicklungen des Liptauer-Repertoires und eine von der Mutter einer Organisatorin zubereitete Gemüsegulasch-Köstlichkeit).
Rumstehen an dem Tisch, der wo die Bar markierte. Da steht ein blonder junger Mann, legt seinen Kopf schief und fragt, “darf ich T-Shirt lesen”. Er darf, die Vorderseite (“seien wir realistisch”) und die Rückseite (“wählen wir das Unmögliche. KPÖ”). Ganz stolz weist er mich darauf hin, dass ja auch er ein T-Shirt trüge – ein Umstand, den ich mit freiem Auge und noch so wachem Verstand von allein nie entdeckt hätte. Auf seinem steht “Betriebswirtschaftslehre angewandt – Bildung für heute” oder sowas. Nein, sowas würd ich nicht anziehen, sage ich. Er sagt, das hätt er sich gedacht und grinst süffisant. Ich korrigiere mich – oh nein, anziehen vielleicht schon, aber wenn, dann nur verkehrt. Er grinst süffisant weiter, ist aber nicht wirklich mitgekommen. Zehn stumme Sekunden später sagt er, “aber, beugen wir uns nicht alle doch irgendwie einem System?” Ich merke, er spricht eigentlich zur Botschaft auf meinem T-Shirt, oder zur Partei, die es vor ein paar Jahren anläßlich einer Wahl produziert hatte, und nicht zu mir. Da aber weder mein T-Shirt noch die Partei in antwortfähigem Zustand sind, übernehme ich und versuche, mit Ansagen wie “von zu viel Beugen kriegt man Hexenschuß” das sich anbahnende vulgärpolitische Blabla abzulenken. Funktioniert nur mäßig, weil sich der Kerl noch sockenvergraulendere Antworten einfallen läßt, die von eindeutiger Absicht auf unpolitische Vulgaritäten zeugen.
Da unterhalte ich mich lieber mit einer sympathischen jungen Dame, die wo von ihren ethnologischen Forschungen bei den Amish erzählt. Junge Dame spricht mit Amish-Bischof. Frage: “Was ist für Sie Sünde?” Amish-Bischof, wie aus der Pistole geschossen: “Masturbation”. Die Realität arbeitet hart daran, es den Witzemachern schwer zu machen und verlangt nicht mal Geld dafür. Man sollte sie wegen Lohndumpings verklagen.
Mein T-Shirt wird immer wieder eingehender Prüfung unterzogen. Die meisten Prüfenden finden es dem Datum gemäß sehr angemessen und unterhalten sich darob mit mir, und nicht mit T-Shirt oder Partei. Das ist auch vernünftig so, denn T-Shirts und Parteien waren noch nie anregende Gesprächspartner. Erstere sind stumm, letztere tun immer nur Gesprächsbereitschaft signalisieren, aber damit hat sich’s dann auch schon.
Ein junger Mann sagt mir, der Spruch wäre Abwandlung eines Bloch-Spruches (“Seien wir realistisch. Versuchen wir das Mögliche.”), wo ich nicht weiß, ob das stimmt. Google sagt mir heute, es gäbe einen Che-Guevara-Spruch ähnlicher Machart (“Seien wir realistisch. Versuchen wir das Unmögliche.”), und außerdem, dass bereits eine Fülle von Variationen des Spruches existiert, wo das Unmögliche gefordert und gewagt wird und wasweißich noch, und alles soll vom Che gekommen sein. Nur geputzt wird das Unmögliche nie, was ich doch etwas beunruhigend finde. Verdrecktes Unmögliches kommt mir nicht in die Wohnung, nein.
Irgendwann in den weinunterfütterten Plaudereien hinter und neben, aber nicht unter, dem Bar-Tisch erzähle ich dann natürlich auch stolz, dass der Tag vor dem Tag der Arbeit mein letzter offizieller Arbeitstag gewesen wäre, da ab Mai einige Monate der (beabsichtigten) Arbeitslosigkeit beginnen. Der blonde Typ im Betriebswirtschafts-T-Shirt ist zu dem Zeitpunkt schon reichlich hinübergesoffen. Reflexhaft sagt er, als wolle er den Ausdruck “arbeitslos” kommentieren oder gar korrigieren: “Bildungskarenz. Jaja, Bildungskarenz.” Neues Phänomen: Besoffene, die reflexhaft Sprache auf politische Schönfärbtauglichkeit hinkorrigieren. Hören sie “soziale Belastungen”, korrigieren sie zu “sozialer Treffsicherheit”, hören sie “autoritäre Regierung”, korrigieren sie zu “Gesprächsbereitschaft signalisieren”. Neue Dime nsionen des bekannten Phänomens automatischer Sprachkorrektur unter Alkoholeinfluß. Man weiß ja, dass in solchen Zuständen aus einem einfachen “schleich dich” gern ein “geh nach Haus mit mir” wird. Erstaunlicherweise kommt das umgekehrte Phänomen so gut wie nie vor.