Was möglicherweise fehlt
Weiter an einer kurzen Besprechung eines “Readers” zum Thema indische Logik gearbeitet. Dabei vor allem über Stanislaw Schayer und seinen Zugang zum Thema nachgedacht.
Schayer war Student von Jan Łukasiewicz, der gemeinsam mit Stanislaw Leshniewski als Begründer der so genannten “Polish School of Logic” gilt. Bekannt wurde Łukasiewicz vor allem durch seine Studien zum aristotelischen Syllogismus, in denen er zeigt, dass die im späten 19. Jahrhundert verbreitete Syllogismuskonzeption historisch sehr weit daneben liegt.
Stanislaw Schayer schrieb in den Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts einige grundlegende Aufsätze über das Studium der indischen Logik und ist auch durch Arbeiten über buddhistische Philosophie bekannt. Vom Herausgeber besagten “Readers” wird er als eine “formalistische” Interpretation bestimmter indischer Schlußschemata propagierend beschriebend, und das wohl nicht zu Unrecht.
Schayer wehrte sich dagegen, Schlußschemata des alten Indien dergestalt mit dem Syllogismus zu vergleichen, dass eine Vergleichbarkeit auf derselben historischen Entwicklungsstufe suggeriert würde. Das anzunehmen wäre Unsinn, meint Schayer.
Statt zu vergleichen möge man vielmehr vom Standpunkt der modernen Logik aus beurteilen, was an altindischen Theorien in unserem Sinn “logisch” sei und was nicht.
Wie sieht diese Art der Untersuchung aus? Nun, Schayer nimmt sich ein altindisches Schlußschema – das bekannteste übrigens – her. Es umfaßt fünf Teile. Einen davon erklärt er für “äquivalent” mit der Substitutionsregel, einen anderen mit der Abtrennungsregel des Aussagenkalküls. Was haben wir gelernt? Dass einige alte Inder Regeln formulierten, die auch moderne Europäer kennen. Aufgrund welcher Problemstellungen sie dazu kamen, wissen wir nicht. Wozu sie sie verwendeten, wissen wir auch nicht. Wir haben Textstellen, die Gesetzmäßigkeiten bei Schlüssen irgendeiner Art beschreiben, in Formuliserungsbauklötzchen geteilt, diesen dann Gesetzbauklötzchen zugeordnet und dann entdeckt, dass zwei von den Gesetzbauklötzchen so aussehen wie zwei Bauklötzchen, in die unsere Logik geteilt ist. Und?
Man merkt bereits, ich kann diesem Vorgehen nichts abgewinnen. Vor allem scheint es mir im Vergleich mit der vergleichenden Methode, von der Schayer es abgrenzt, nicht wirklich überlegen: Anstelle eines Vergleichs unter der Prämisse historischer Vergleichbarkeit tritt ein letztlich ebenfalls vergleichendes Verfahren unter der Prämisse logischer Äquivalenz. Der Erkenntniswert in beiden Fällen ist gering (es kann sein, dass die Ergebnisse solcher Bauklötzchenverfahren zu interessanten Fragen führen, aber Antworten, Erklärungen oder Analysen sind sie nun mal leider nicht).
Das Problem liegt darin, dass Schayer zwar das Ziel der vergleichenden Methode – das Feststellen von Ähnlichkeiten und Unterschieden – durch sein eigenes – das Beurteilen – ersetzt, aber übersieht, dass er um die zentralen Komponenten der vergleichenden Methode selbst nicht herumkommt – und dass auch sein Verfahren die Beschränkungen der vergleichenden Methode gewissermaßen ererbt.
Äh ja, wo war ich stehen geblieben. Jetzt kommt die Frage, die mich an diesem sonnig-kühlen Nachmittag eigentlich zu interessieren begann. Es scheint ja so zu sein, dass der mathematischen Logik Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts von ihren “Betreibern” eminente Wichtigkeit in der Begründung der empirischen Wissenschaften überhaupt zugesprochen wurde. Łukasiewicz, der übrigens 1919 Erziehungsminister des erst 1916 erklärten Königreichs Polen wurde, wird im eingangs verlinkten Text etwa so charakterisiert:
”... viewing mathematical logic as an instrument of enquiry into the foundations of mathematics and the methodology of empirical science, Łukasiewicz succeeded in making it a required subject for mathematics and science students in Polish universities. His lucid lectures attracted students of the humanities as well.”
Vielleicht steht diese starke Gewichtung der mathematischen Logik auch in Zusammenhang mit Versuchen, die Philosophie dadurch doch noch als Leitwissenschaft zu retten. Der Schluß drängt sich auf, aber aufdringliche Schlüsse sind gelegentlich mehr lästig als, äh, schlüssig, deswegen aufpassen, ja, genau.
Wenn ich Schayers Aufsätze lese, hätte ich auch keine Schwierigkeiten, mir dazu eine durch und durch szientistischen Autor zu denken, der sich begeistert an der Entwicklung formaler Logiken beteiligt und gleichzeitig ab und an in das alte Indien guckt, um auch dort “in unserem Sinn Logisches” rauszupicken. Ich hätte auch keine Schwierigkeiten mir vorzustellen, wie Herr Schayer ungeduldig alle nicht wissenschaftlichen – lies: positivistisch wissenschaftlichen – Versuche der Welterklärung als uninteressant, überholt und schlecht gedacht ablehnt. Aber ob diese Vorstellung historischen Tatsachen entspricht, ist eine andere Sache. Es ist vielleicht auch nicht so besonders interessant, dieser Vorstellung noch länger, in den kalten Abend hinein, nachzugehen.
Was also möglicherweise fehlt: Eine Geschichte der modernen Logik unter dem Gesichtspunkt ihres propagierten Stellenwertes für den Status der Philosophie, der Wissenschaften. Eine Geschichte nicht als erzählte Abfolge logischer Theorien, sondern als Wissenssoziologie der Logik. Ach nein, es ist wohl kein Zufall, dass man durch die Beschäftigung mit der Rezeption antiker, fremdkultureller Theorien in Europa gerade zu solchen Fragestellungen kommt.
Letzteres dürfte kniffelig werden, weil man, um die logischen Systeme anderer Zeiten oder Kulturen beschreiben zu können, selbst nach einer bestimmten Logik vorgehen muss. Die müsste in diesem Fall wohl zuerst transparent gemacht werden.
gHack (Feb 11, 11:36 am) #
Das ist ein oft vorgebrachtes, aber dennoch, meine ich letztlich leeres Argument: Ich muß ja etwa bei der Beschreibung einer anderen Sprache nicht meine eigenen Sprache "transparent " machen, zumindest nicht alles davon und immer und überall. Man könnte auch weiter gehen: Es ist gar nicht möglich, so ein Transparenzideal zu realisieren, da das Vorgehen nach gewissen Prinzipien immer die Prinzipien selbst verdeckt und in dem Sinn "intransparent" macht.
Aber davon abgesehen. Ich kann sehr wohl bemerken, dass ein gewisses Schlußschema in alten indischen Texten immer mit Bezug auf ein bestimmtes Beweisziel verwendet wird, ohne einen ausgefuchsten, hyper-expliziten Begriff davon zu haben, was in "meiner" Logik ein "Beweis" ist und was dementsprechend ein "Beweisziel" darstellt. In erstaunlich vielen Zusammenhängen ist es möglich, fremdkulturelle Sachverhalte ohne durchtheoretisierte Begriffsfelder zu beschreiben.
Mich erinnert diese Transparenzforderung immer an analoge Forderungen aus dem Feld des Verstehens: Bevor man sich selbst nicht verstanden hat, kann man niemand anderen verstehen. In einer gewissen Weise ist das wahr, aber uninteressant (weil trivial). In einer möglicherweise interessanten Weise ist es aber einfach falsch, weil die Voraussetzungen nicht passen. Es ist ja nicht so, dass Personen oder Kulturen als abgeschlossene Systemen gewisse Operationen, genannt "Verstehen", mit Bezug auf andere oder sich selbst ausüben würden, ähnlich wie Köche mit Kochlöffeln andere oder sich selbst schlagen. Das implizite Verstehens- (oder, im obigen Fall: Beschreibungsmodell) paßt nicht.
katatonik (Feb 11, 01:13 pm) #
Das Argument ist nicht leer, weil man trotzdem seine Methodik offenlegen muss, wenn man wissenschaftlich vorgehen möchte. Mit Introspektion hat das nichts zu tun. Ohne Kategorienbildung wird man bei einem solchen Vorhaben nicht auskommen können. Es muss möglich sein, die Entstehung der verwendeten Kategorien nachzuvollziehen.
gHack (Feb 11, 01:34 pm) #
Das ist aber etwas anderes als, wovon zuvor die Rede war (was meintest Du eigentlich mit "Letzteres" in Deinem ersten Kommentar? Kann ich nicht wirklich hinbiegen: Wieso sollte mein Wunsch nach einer wissenschaftssoziologischen Behandlung der Geschichte logischer Theorien deshalb knifflig sein, weil man seine Methode nicht offenlegen kann?). Ich hatte Deinen ersten Kommentar wohl mißverstanden, weil die Verwendung des Ausdrucks "Logik" gerade in dem Zusammenhang mißverständlich war. Du meintest Methode, ich verstand was anderes (nämlich: logische Theorie).
Um fremdkulturelle Theorien beschreiben zu können, braucht man Methode, gut. So formuliert ist das Argument nicht leer, sondern kein Argument - es ist einfach eine allgemeine wissenschaftsethische Forderung. Was die an dieser Stelle soll, ist mir ehrlich gesagt nicht klar.
katatonik (Feb 11, 02:29 pm) #
Ich habe mich in meinem ersten Posting missverständlich ausgedrückt. Ich meinte mit "Logik" die wissenschaftliche Vorgehensweise. Mit "letzterem" meinte ich die vorgeschlagene wissenschaftssoziologische Unternehmung.
gHack (Feb 11, 05:31 pm) #
Ah ja, danke, es hellt sich. Und warum ist die knifflig, die Unternehmung? Weil Wissenschaftssoziologie an sich knifflig ist?
katatonik (Feb 11, 05:36 pm) #
Genau. Ich kenne halt so ein paar Sachen von Bruno Latour, die sich allerdings eher mit soziologischen Aspekten naturwissenschaftlich-technischer Anwendungen auseinandersetzen (Pasteurisation de la France, Aramis). Und da ist es schon manchmal tricky, weil man eben Selbstverständnisse debuggen muss. Dabei tritt man schnell jemandem auf die Füsse. Das wäre bei Deiner Idee zwar nicht so der Fall, aber dafür ist das Sujet umso komplexer. Die im eigentlichen Posting aufgeworfene Frage, inwieweit die formale Logik für die Philosophie das ist, was die Mathematik für die Physik bedeutet, finde ich auch spannend. Oder ist das im Fach schon durch koexistierende Diversifikation erledigt?
gHack (Feb 11, 06:00 pm) #
Die formale Logik ist für die Mathematik, was die Philosophie für die Physik bedeutet. Die Mathematik ist für die Philosophie, was die formale Logik für die Physik bedeutet. Die formale Philosophie ist für die Logik, was die Mathematik für die Physik nicht ist. Logische Physik hat was, was mathematische Philosophie überhaupt nie bekommt. Formal gesehen kann Logik der Mathematik nicht das geben, was die Philosophie der Physik vorenthält. Meine Sorgen möcht' ich haben ...
Staniswaw (Dec 5, 08:03 pm) #