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- 16 08 2001 - 03:48 - katatonik

Wespengespräche, Teil 2

Inhaltliches
Praschl betont die befreiende Erfahrung der Verfügbarkeit von Texten im Netz, die es Leuten wesentlich erleichtern würde, zu Information oder Wissen zu gelangen und, weil die Texte ja auch gratis sind, das Studentensein ökonomisch erleichtern würde. Natürlich ist die freie Verfügbarkeit von Texten im Netz (damit meine ich nicht nur literarische Texte, sondern auch Zeitungen und Zeitschriften, in Zusammenhang mit Studium vor allem wissenschaftliche) eine tolle Sache. Allerdings würde ich die Annahme für übertrieben halten, dass vor die Alternative “Pullover oder Buch” gestellte Studenten in großer Zahl durch Project Gutenberg oder ähnliche Initiativen vor Verhungern, Erfrieren oder Studienabbruch gerettet worden sind. Problematisch ist vielleicht eher, dass Bibliotheken, weil sie nur mehr an der Digitalisierung von Information interessiert sind, reale Bestände verwursten oder beschädigen, beziehungsweise Arbeitskräfte vom Schalterdienst abziehen und zu den Scannern stellen.

Praschl beschreibt sehr schön, für welche Zwecke E-Texte wohl sehr oft verwendet werden, natürlich auch von mir: das mäandernde Lesen, das Springen, das Suchen nach Zitaten und Querverweisen. Ich kenne niemanden, der umfassende Texte konzentriert am Bildschirm liest, mich eingeschlossen. Ich kenne viele Leute, die sich schon von Camp-Catatonia-Texten längenmässig überfordert fühlen (mich eingeschlossen). Es scheint einen Hang zur Kürze und Sprunghaftigkeit bei der Lektüre von E-Texten zu geben. Konzentrierte und umfassende Lektüre, wie sie für zumindest geistes- und kulturwissenschaftliche Studienzweige notwendig ist, und nicht nur da, wird von E-Texten nicht befördert. Das ist einfach eine Beschränkung, die digitale Lektüre hat, egal, welche Konsequenzen man daraus zieht.

Der Gedanke der Befreiung durch freie Verfügbarkeit ist so simpel wie bekannt: Man erleichtere den Leuten den Zugang zu Texten als Material, dafür haben sie dann mehr Zeit zum Lesen, Denken oder Inspirierenlassen. Ach ja, erfindet Roboter, damit der Mensch frei und seinen Neigungen gemäß lustwandeln kann … Aus so einer Befreiungsutopie speist sich viel Enthusiasmus über das Internet, und das nun schon seit Anfang der Neunziger Jahre (zumindest in meinem Mikrokosmos; mein Netzaktivitätsbeginn datiert auf 1994). Gekoppelt ist das meist mit der Lobpreisung der Demokratisierung von Information, die mit der allgemeinen Zugänglichkeit von Information im Internet einhergeht.

Ich halte dem zuerst die nicht minder simple und ebenfalls bereits bekannte These entgegen, dass auch im Internet Reichtum (geistiger, kultureller) vorwiegend zu dem kommt, der schon welchen hat. Genauso wie der freie Universitätszugang in Österreich entgegen idealistischer Annahmen nicht dazu geführt hat, dass mehr Studenten aus ärmeren Schichten studierten, so führt der freie Informationszugang (wenn er denn einer ist, ist ja auch alles mit Kosten verbunden) nicht per se dazu, dass Leute, denen zuvor Bildung und Wissen vorenthalten wurde, jetzt welche kriegen. Breitere Verfügbarkeit bedeutet nicht per se Demokratisierung. Wenn mehr Leute leichteren Zugang zu mehr Texten haben, ist sicher die Wahrscheinlichkeit grösser, dass mehr Leute mehr Texte besitzen werden. Auch ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass mehr Leute mit Bildungskapital, denen Geld fehlt, ihr Bildungskapital vermehren werden. Aber wer nicht lernen kann und nicht mit Texten umzugehen gelernt hat, wer nicht gelernt hat, dass Texte nicht schon deswegen recht haben, weil sie gedruckt sind oder am Bildschirm wie gedruckt ausschauen, wird auch durch Gratisbesitz von mehr Texten nicht mehr wissen. Es kann durchaus sein, dass bestimmte Eigenschaften des Internet bereits bestehende Gesellschaftstendenzen hin zu mehr Wissen & Freiheit & Wonne & Eierkuchen fördern, aber ich glaube nicht, dass irgendeine Form von Technologie geeignet ist, etwas zu schaffen, wozu es nicht schon spürbare Tendenzen gibt. In und außerhalb von Universitäten. Das mag nach Binse klingen, aber mein Eindruck ist, dass tatsächlich nicht we nige im Internet und für das Internet arbeitenden Menschen solche oder ähnliche Vorstellungen haben, bzw. auch glauben, durch Gratisangebote im Netz allein könne man Machtstrukturen aufbrechen und verändern.

Der Auffassung “erst tun, dann vielleicht denken” konnte ich übrigens außer in extremen Notfällen und beim Sex noch nie was abgewinnen, das nur so nebenbei.

Zweitens beobachte ich als Lehrveranstaltungsleiterin, dass genau der Effekt des Denkzeitgewinns durch Beschaffungszeitverminderung, den Praschl preist, bei meinen Studenten nicht eintritt. Auch bei mir nicht. Es wird nicht mehr gedacht und gelesen, weil die Texte leichter verfügbar sind. (Oder meine Studenten verheimlichen die tiefsinnigen Resultate ihrer Denktätigkeit gewitzt vor mir, was allerdings wiederum ziemlich dumm wäre.) Gelesen wird wesentlich oberflächlicher, gedacht wesentlich fragmentarischer. Mehrere mir bekannte Universitätslehrer anderer Fächer (Wirtschaftspsychologen, Soziologen, Historiker, Pädagogen) berichten Ähnliches, und zwar ebenfalls im Umgang mit Runterladeangeboten von Texten. Zusätzlich zur schon erwähnten Beschränkung von Internettexten (Hang zur Kürze, zum Fragment) scheint da auch das in unseren Gesellschaften ja nicht so seltene Prinzip mit eine Rolle zu spielen, dass, was leichter verfügbar ist, deshalb weniger wert ist. Ich persönlich ziehe aus diesen Beobachtungen den Schluss, dass Technologieenthusiasmus vielleicht besser einmal abbremsen sollte und Platz zu machen hätte für Überlegungen zu verschiedenen Umgangsweisen mit dem, was nun alles übers Netz da ist. Das bedeutet nicht ein Aufhören mit Runterladangeboten, aber deren Erweiterung um Vermittlung, wie mit dem Runterladen und dem Runtergeladenen umgegangen werden kann oder soll – um Überlegungen dahingehend, in welchen Zusammenhängen eine Verwendung oder ein Anbieten digitalisierter Texte sinnvoll ist und in welchen nicht. Es muß nicht alles ins Netz. Es soll nicht alles ins Netz.

Das Internet sei eben auch nur ein Archiv, mein Praschl. So wie andere: Bibliotheken und so weiter. Hartes Quellensuchen wäre ja nicht Bedingung für Wissenserwerb. Hm. Ich sehe jetzt mal von begrifflichen Feinheiten ab (das Internet ist nicht im eigentlichen Sinn ein “Archiv”, weil Archive strukturiert, erfaßt, aufgearbeitet und geordnet sind). Wenn wir jetzt mal von textbezogenen Studien reden (Germanistik zum Beispiel), dann stimmt das für moderne Bereiche vielleicht. Historische Forschungsinteressen sind etwas anderes, dazu weiter unten. Man muß sich nicht notwendig in Bibliotheken abackern, wenn es Material auch im Internet gibt. Allerdings halte ich das Umgehen mit realen Archiven tatsächlich für eine Bereicherung, und, wenn es überhaupt etwas Lebensnahes und Praxisbezogenes am Studieren gibt, dann ist es wohl das: Du suchst rum, du machst dir Gedanken über Verbindungen zwischen diesem und jenem, du fragst ab und an, in Bibliotheken, im Internet, auf CD-ROMs, in Gesprächen mit anderen. Manchmal fällt dir plötzlich was auf oder ein, manchmal dauert’s länger, manchmal funktioniert’s einfach nicht. Was machst du dann? Studieren heißt auch was mitkriegen von der ganzen Drumherumorganisation von Wissen, von widrigen Umständen. Davon, dass dein Studiererfolg, Lernerfolg, Erfolg überhaupt auch von was anderem abhängig ist als von Lesen und Nachdenken. Davon, dass manchmal Ziele umdefiniert werden müssen, weil sich Wege als nicht gangbar erweisen. Von Glück. Von Psychologie. Von Methode. Von Organisation. Ich weiß nicht, mir kommt das “Rumhängen in Bibliotheken ist ja nicht notwendig”Argument ein bisserl so vor wie die Frage des Studenten, wozu er denn eine Seminararbeit über Goethe schreiben soll, gibt ja eh schon genug kluge Bücher über den.

Ein wichtigeres Argument ist, dass sich nun mal die Materialität von Büchern, von Manuskripten, von Zeitschriften, Zeitungen und anderen Zeugnissen, nicht ins Netz transportieren läßt. Sie ist aber in jenen Forschungs
oder Lernzusammenhängen sehr wichtig, in denen andere Faktoren als Inhalt und Sprache von Texten releva


Ist der richtige Umgang mit Lernmaterial, das vertiefende Lesen nicht etwas, das wir unseren Kindern bereits beibringen müssen? Indem wir z.B. den Fernseher ausgeschaltet lassen. Indem wir z.B. mit ihnen lesen und über das Gelesene diskutieren. Oberflächlickeit in der Phase der Universitätsausbildung kurieren zu wollen, indem ich die Quellen beschränke, ist doch etwas zu spät. Und obendrein bringt es nicht den gewünschten Erfolg: Der Last-Minute-Worker wird nicht seinen Arbeitsstil ändern, nur weil er sich mehr bemühen muss, an die notwendigen Informationen zu gelangen.

Thomas J. (Aug 16, 09:03 am) #


ja, das war ein haken an der formulierung. besser vielleicht so: "produkte menschlicher handlungen hauptsächlich an auswirkungen zu messen, die nicht beabsichtigt waren, ist daneben." damit kriegt dann auch der mörder eines gewinnlotterielosbesitzers, der durch sein widerwärtiges wirken einem anderen den hauptgewinn verschaffte, sein fett ab.
ja, das mit den schulen und den kindern. stimmt natürlich einerseits. soll man nicht ausblenden. andererseits ist weder kindererziehung eine einbahnstraße noch universitätsausbildung hoffnungslos den resultaten von schule & eltern verpflichtet. wäre ich der ansicht, alle von mir betreuten studenten wären produkte einer voll hirnrissigen schulbildung und hätten üble eltern gehabt, und damit schluss, könnte ich wohl in mehr als einer hinsicht einpacken.

katatonik (Aug 17, 04:43 am) #


ah ja, andreas, was meintest du übrigens mit dem "Ursprungsposting"?

katatonik (Aug 17, 04:44 am) #


sorry, da hatte ich mich unklar ausgedrueckt, ich bezog mich auf http://.../#296">http://.../#296
2.Versuch:
Ich teile im übrigen die Bedenken gegen einen "unüberlegten Technologieenthusiasmus", aber im Zusammenhang mit SparkNotes seh ich diese Problematik nicht. Deren Selbstverstaendnis ist natuerlich sehr plakativ ueberheblich, aber das ist normales Marketing.
Und diesen Satz hier:
"[..]but learning how to deal with archives and libraries, with books in many different languages from different eras, and - most importantly - with grumpy and stubborn librarians is absolutely essential for studying [..]" kann ich nicht unterschreiben. Es mag fuer manche Studiengaenge der Geisteswissenschaften durchaus hilfreich sein mit Buechereien und deren manchmal ungeselligen Bewohnern umgehen zu koennen, aber ich halte diese Art zu studieren in vielen Bereichen fuer ueberkommen und keinesfalls fuer "absolutely essential". Den Umgang mit Buechern und das Konzept des Recherchierens nehm ich davon ausdruecklich aus, an diesen Notwendigkeiten aendert aber auch das Web und Sparknotes nichts. Gerade die Ergaenzung, das Querlesen von mehreren Quellen (also Buecher aum Tisch plus online-Resourcen) waehrend des Schreibens einer Arbeit zuhause empfinde ich als ungeheuere Erleichterung und auch Bereicherung der akademischen Arbeit.
Umgekehrt erleichtern es diese neuen Moeglichkeiten auch dem Lehrkoerper manchem Duennbrettbohrer leichter auf die Spur zu kommen. Z.B. einen auffaelligen Satz aus einer Semesterarbeit in eine der einschlaegigen Suchmaschinen klopfen und schon wird der wahre Urheber erkannt.
Ein weiteres Beispiel: im Bereich Jus gibt es eine Mehrheit von Rechtsanwaelten die durchaus wissen wie man in einer Buecherei nach Kommentaren fandet, die aber im konkreten Fall ihren online-Kollegen so hoffnungslos unterlegen sind, da die neuesten Urteile oft nur elektronisch archiviert sind.

Disclaimer: ich habe keinen Studiengang der Geisteswissenschaften besucht.

Andreas (Aug 17, 05:10 am) #


"Manche Sachen haben nicht beabsichtigte gute Auswirkungen, aber sie deswegen für gut zu halten, ist doch irgendwie daneben, oder?"

Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Manche Sachen (z.B. Sparknotes) haben nicht beabsichtigte negative Auswirkungen, aber die deswegen für schlecht zu halten ist doch irgendwie daneben, oder?

Ich teile im übrigen die Bedenken gegen einen "unüberlegten Technologieenthusiasmus", aber im Zusammenhang mit dem dem Ursprungsposting seh ich diese Problematik nicht.

Andreas (Aug 17, 12:43 pm) #


ah ja, jetzt isses mir klarer.
vielleicht könnte man das so formulieren: studieren beinhaltet einerseits informationsbeschaffung und deren geistige verarbeitung und auch andere, sagen wir mal "soziale" oder "prozesshafte" komponenten des problemlösungsvorgangs, mir fällt da jetzt kein geeigneter ausdruck ein. archivsuchen oder buchumgang ist so ein grenzfall, weil es ja beide funktionen erfüllt. wenn jetzt die informationsbeschaffung stärker digital stattfindet, würde ich sagen, dass man sich auch drum kümmern sollte, dass die anderen komponenten nicht zu kurz kommen.
ich finde es übrigens schon eigenartig, dass die arroganz des "mission statements" einer studenteninitiative als im rahmen von normalem marketingblabla verständlich bezeichnet wird. erstens kann man auch auf andere weise marketing betreiben, zweitens ist es nicht selbstverständlich, dass überall marketing betrieben wird und werden muss. finde das übrigens immer eklatant, wenn ich vor allem jüngeren amerikanischen fachkollegen beim vortraghalten zuhöre: massenweise selbstmarketing, große ankündigungen, die dann nicht erfüllt werden, dauerndes hinweisen auf eigene publikationen.

katatonik (Aug 17, 01:07 pm) #


auch wenns langsam OT wird: diese Form des laut tönens, Marktschreierisches Auftreten, Marketingsprüche auch auf studentischen Webseiten, ist eine sehr Amerikanische Eigenheit. Auch eine Fertigkeit, die hier sehr viel stärker gelehrt wird als an Europäischen Schulen und Universitäten. Diskussionsclubs und Rhetorikkurse sind an den meisten Colleges Standard. Ich bin zwar auch der Meinung daß die auch von Dir erwähnte Selbstdarstllung eher nervig ist, aber man muß zugeben daß es schon sehr traurig ist, mit welch MAngel an Social Skills viele Deutsche und Österreichische Studenten daherkommen.
Ich hab den Uni-Betrieb eher frustriert verlassen, u.a. auch weil ich in einer Woche Praktikum mit einigen auslänischen Kollegen mehr gelernt habe als in 2 Semestern Hörsaal und Bibliothek.

Andreas (Aug 17, 05:35 pm) #

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