Vom Verwahrlosen
“Intellektuelle Verwahrlosung” wirft der Spiegel-Redakteur Reinhard Mohr einer ganzen Reihe von Autoren vor, die Kommentare zu den Anschlägen in New York abgegeben hatten (gekürzte Fassung im aktuellen Standard, die längere Originalfassung erschien im Tagesspiegel, scheint aber nicht online zu sein).
Die Geste, im Brustton moralischer Empörung mit Sätzen, die vor händereibender Jetzt-Sag-ich’s-ihnen-rein-Biestigkeit überfließen, auf sehr unterschiedliche Zitatfetzen hinzuhacken, wirkt allerdings zwei Wochen nach dem Ereignis reichlich deplaziert. Was in unmittelbarer Folge auf eine Katastrophe als spontane Gefühlsregung auch an Orten in Medien Platz haben mag, wo eigentlich Diskurs und Analyse vorgesehen sind, wirkt dort zwei Wochen danach bestenfalls merkwürdig, ebenso merkwürdig wie einem an der Katastrophe Leidenden kalt lächelnd ins Gesicht zu sagen, daran wäre schon seine eigene Regierung schuld.
Verwahrlosung? Diskursive Verwahrlosung würde ich es nennen, wenn man gegen jene zeitliche Distanz, die nach einer Katastrophe emotionale Abkühlung mit sich bringt und bringen muß, mit stürmischer Rhetorik angeht, um mal wieder etwas Leidenschaft in die mediale Diskursbude zu bringen.
Mohr zitiert übrigens auch Dario Fo, der gesagt haben soll “Die großen Spekulanten planschen lustvoll in einer Ökonomie, die Jahr für Jahr Millionen von Menschen im Elend umkommen lässt – was machen da schon 20.000 Tote in New York aus?” Die Süddeutsche Zeitung berichtet, es handle sich dabei um ein Fehlzitat. Fo habe damit die Gedankengänge von Spekulanten nachzeichnen wollen, in weiterer Folge sei das Zitat aber ihm selbst als Kundgabe seiner eigenen Meinung in den Mund gelegt worden.
Nein, wer intellektuelle Verwahrlosung anprangert, kann sich journalistische Wahllosigkeit nicht leisten.