Fünf oder sechs Schwänke zur Aufklärung. Teil 1. Der Wortgebrauch.
Schon weit vor dem 11.9. schien mir, dass man sich in deutschsprachigen Feuilletonbeiträgen vermehrt und wiederholt auf die Aufklärung beruft. Es scheinen mehr Bücher über die Aufklärung als historisches Phänomen oder einzelne Denker der Aufklärung veröffentlicht zu werden, die dann eben rezensiert werden; es erscheinen auch mehr Beiträge zu Themen wie Universalismus und westlichen Werten, deren Autoren sich bewußt auf die Aufklärung beziehen und vom aufgeklärten Westen gegenüber anderen, meist islamischen, Weltgegenden sprechen. Auch wenn dieser mein Eindruck durch ausgefeilte statistische Erhebungen in FAZ-, SZ- oder Zeit-Archive nicht bestätigt werden sollte, und auch wenn damit jetzt keine “Renaissance” der Aufklärung in der Wissenschaft einhergehen sollte, ist die folgende Frage wohl doch berechtigt:
Wovon ist eigentlich die Rede, wenn in Zusammenhang mit Multikulturalismus und Universalismus – und nur um diesen Zusammenhang geht es mir hier – vom aufgeklärten Westen die Rede ist? Und warum? Warum jetzt?
Vorerst zum Wortgebrauch.
1) “Westen” meint in medialen Zusammenhängen nicht eine geographische Region in einer bestimmten historischen Epoche. “Westen” ist dort ein strategischer, geopolitischer Begriff, der praktisch nur noch in wertender Weise gebraucht wird. Die einen reden abwertend und resignativ von einer “Verwestlichung”, wenn Pop in indischen Fernsehkanälen auftritt, wenn Frauen Hosen tragen oder Kinder ihre Eltern im Alter nicht mehr versorgen möchten; die andern pochen störrisch auf “westliche Werte”, wenn Hammel gebraten und Kopftücher getragen werden, womöglich mitten im 10. Wiener Gemeindebezirk. “Westen” meint nichts Konkretes, aber der Prediger westlicher Werte kokettiert lasziv mit dem Anschein des Konkreten, die die Anrufung derselben verspricht. Diskret übergeht er die Nebel der Abstraktion, die sie verhüllen; gewitzt ignoriert er die Schleier der Unschlüssigkeit, die den Übergang von der Anrufung westlicher Werte zur Forderung etwa nach militärisch-politischem Eingreifen hie und da oder eben Nichteingreifen dort und dann umwehen.
2) “aufgeklärt” meint in solchen Zusammenhängen nicht den historischen Zustand, an dem sich weite Teile europäischen Denkens im 18. Jahrhundert befanden. Er bezeichnet auch nicht charakteristische Elemente der geistigen Strömung jener Zeit.
Jaja, auch “Aufklärung” ist ein strategischer Begriff, der praktisch nur noch in wertender Weise gebraucht wird. Aufgeklärt ist der Westen, weil er die Religion in Schranken gewiesen hat, weil er durch und durch säkularisiert ist, weil er Menschenrechte entwickelt hat und weiter pflegt, weil er dort, wo andere den Mond anjammern, mit schweren Stiefeln im vollen Bewußtsein seiner Rationalität modernistisch auf ihm herumtapst. Prediger der Aufklärung kokettieren lasziv mit dem Gewicht der Historizität dieses Begriffes, ohne sich allerdings auf die Denkpflichten einzulassen, die der Bezug auf epochenspezifische Geistesströmungen mit sich brächte. Es geht hier um Aufzucht und Hege von zivilisatorischem Ehrgefühl: So wie die Berufung auf die europäische Antike als Identitätsstifter für die Gegenwart Europas setzt die Anrufung der Aufklärung einen Schachzug in jenem Spiel, das gegenwärtige Kulturen oder Zivilisationen – man weiß ja nie so genau, wovon die Rede ist – deswegen als hochwertig beurteilt, weil sie als direkte Fortsetzung meisterlicher Schöpfungen von anno dazumal gelten. Europa hat die Demokratie erfunden, Europa ist Mutterland und Inbegriff der Demokratie. Schöpfungen werden da ganzen Geistern, gesamten Zivilisationen und alldurchdringenden Mentalitäten zugeschrieben. Als ob Geschichte und ihre Erforschung das Geschäft globalgeschichtlicher Mißwahlen zu verrichten hätten.