Nachsatz
Schon vor ein paar Tagen hatte ich in gaaanz anderem Zusammenhang auf eine Rezension von Christina von Brauns neuem Buch “Versuch über den Schwindel” in der Süddeutschen Zeitung verlinkt, in dem anscheinend unter anderem die These vertreten wird, man könne das Abendland aus dem Charakter des griechischen Alphabets erklären und eine ganze Reihe von Merkmalen – Geschlechterverhältnis, Körperverhältnis – durch die Tatsache verstehen, dass hier eben alle Phoneme abgebildet werden, wogegen das hebräische Alphabet eben nur Konsonanten darstellt undsoweiterundsofort. Die These habe ich von Braun übrigens schon einmal im Fernsehen propagieren sehen und hören; das macht sie freilich weder plausibler noch verständlicher.
Hier jetzt eine sehr feine Rezension besagten Buches in der Neuen Zürcher Zeitung, verfaßt von Andreas Cremonini.
Was mich allerdings wundert, ist, dass keiner der (nicht unbedingt zahlreichen) Rezensenten, deren Texte online zu finden waren (anonymer Amazon-Kundenrezensent, Barbara Büscher, hier des Perlentauchers zusammenfassender Überblick), darauf hingewiesen hat, dass es ja noch andere Alphabete als das griechische gibt, in denen jedes Phonem dargestellt wird. Etwa das Devanagari-Alphabet, in dem (unter anderem) Sanskrit geschrieben wird. Müßte man dann nicht all die zahllosen Merkmale, die Alphabetlichkeit im Abendland anscheinend bedingt, dann auch in Indien finden?
Devanagari wird normalerweise als "Silbenschrift" bezeichnet, weil es viele Zeichen hat, die nicht Phoneme sondern Silben darstellen. In der Analyse von McLuhan macht das einen großen Unterschied bezüglich der Abstraktionen, die mit rein phonetischen und nicht ganz phonetischen Schriften einhergehen.
das kommt darauf an, wie man "silbe" versteht.
devanagari unterscheidet zwischen konsonanten- und vokalzeichen.
konsonantenzeichen haben einen anschließenden vokal implizit - wenn nicht anders angezeichnet, automatisch ein "a". wenn ich also ein "k"-zeichen schreibe, schreibe ich ein "ka".
insofern die einzelnen konsonantenzeichen aber durch zusatz anderer vokalzeichen verändert werden können (vertikalbalken vor dem "k-" mit bogen drüber: "ki", vertikalbalken dahinter mit bogen drüber: "ko"), könnte man sagen, dass einfach die arbeitsaufteilung der graphischen zeichen bei der zusammenstellung von konsonanten- und vokalfolgen anders ist als im alphabet, aber sowohl konsonanten als auch vokale sind durch visuell isolierbare einheiten repräsentiert.
anders ausgedrückt: jedes phonem ist eine kraxen, kann aber als solches auch eine teilkraxen von einer eine silbe darstellenden kraxen sein.
devanagari ist in keinem fall eine nicht phonetische schrift analog dem hebräischen, wo bestimmte phoneme gar nicht dargestellt werden; es ist auch keine ideogrammatische schrift wie chinesisch, wo zwischen phonem und zeichen bestenfalls ein lockerer zusammenhang besteht.
wenn es bei der mcluhanschen unterscheidung also nur darum ginge, dass entweder alle phoneme dargestellt werden oder nicht, wären unter diesem aspekt devanagari und alphabet gleichwertig.
ich vermute aber, da geht's noch um was anderes. worum?
katatonik (Dec 14, 01:07 am) #