Wohltuende Tiraden
”... Die alles entscheidende Frage nach der Gymnasialempfehlung hat Konkurrenztechniken, die bis vor ein, zwei Jahrzehnten dem Abitur vorbehalten waren, in die dritte Klasse der Grundschule eingeführt. Die Verwandlung der gymnasialen Oberstufe in eine Börse der Spekulation auf Zensuren hat dazu beigetragen, dass die Universität immer mehr Aufgaben der Schule wahrnehmen muss – wo sich dann die Ungebildeten mit denen treffen, denen die Hochschule zum Schutzhafen wider die Arbeitslosigkeit geworden ist. Und längst kehren die Kinder, die durch dieses Bildungssystem gegangen sind, als Lehrer an die Schulen zurück.
Falls sie es schaffen. Denn die Durchsetzung des Wettbewerbs bis in den letzten Winkel der Schule hat dafür gesorgt, dass es keine Verbindung mehr gibt zwischen dem Aufwand, mit dem einer seine Bildung betreibt, und dem Ertrag, den er dafür erhält. Noch vor vier Jahrzehnten war die Universität nicht der vom ersten bis zum letzten Tag prekäre, unsichere, vom Zynismus geprägte Aufenthaltsort, der sie heute ist, sondern die erste Etappe einer gesicherten Laufbahn. „Lebenslanges Lernen“ wird heute stattdessen gefordert, mehr „Flexibilität“, „Mobilität“, der Begriffsschrott bildet ganze Berge. Es gehört zu den Eigenarten der Lehre von der totalen Konkurrenz, dass sie stets nur mit den Bildern der Gewinner illustriert wird. Viele – und viele Schüler – wissen es besser. Sie eröffnen die Rechnung von Kosten und Nutzen in umgekehrter Richtung. Und kommen zum Ergebnis, dass sich wenig Aufwand und mäßiger Ertrag eher lohnen als viel Aufwand und sehr ungewisse Aussichten. Kein Wunder also, dass dieses Bildungswesen die Klassenunterschiede fördert, dass reich und arm, gebildet und ungebildet wieder weiter auseinander treten, als es lange Zeit der Fall war. Der Prozess, in dem mehr Konkurrenz mehr Leistung hervorbringt, scheint am Ende angekommen, ja in sein Gegenteil umgeschlagen zu sein.”
Demnächst müsste mal ein Aufsatz darüber her, welche Funktion dieser Sozialismus im Feuilleton ansonsten ölig neoliberale Positionen vertretender Zeitungen hat - für die verzagende Wirtschaftsredakteurin, für den affirmationsgebeugten Leser und so.
War der wohl unzureichende Ausdruck meiner Beobachtung, dass in allerlei Zeitungen, in deren Feuilleton, und eben nur dort, nicht selten eine gewisse Mittelschichtsbangigkeit vor den bösen, bösen Folgen der Deregulierung auftritt, während zwei Seiten zuvor im Wirtschafts- oder Politikteil ebendiese mit BWLer-Penetranz angemahnt wird.
Also etwa: Hinten macht sich Zizek für Lenins Wiederbelebung stark, während vorn irgendein Wilfried Herz oder wie der heisst über den vermeintlich von der tarifpolitischen Hartleibigkeit der Lehrergewerkschaft angerichteten Flurschaden schimpft.
So, denke ich, bedienen die eben verschiedene Lesersegmente oder die Stimmungsschwankungen zwischen Frühstück und Abendbrot. Allerdings: Von einer Zeitung die Repräsentation einer ideellen Gesamtidentität zu erwarten, klingt auch mehr nach 1930, aber manchmal mag man eben unzeitgemäss fühlen.
naja, sozialismus seh ich da ehrlich gesagt nicht unbedingt. der text wäre mit seiner anklage von zynismus und dem einmahnen von wettbewerbsfreier bildungserzeugung ja prinzipiell auch mit sentimentalem altlateinlehrertum verträglich, demzufolge das lehnstuhldasein vor eifrig die lehrergenialität mitstenografierenden lehrlingen inbegriff des bildungshimmels ist.
neoliberalismus per se seh ich im sz-feuilleton eigentlich eher weniger, aber vielleicht lese ich das zu unaufmerksam. denke da eher oft an schnöselig-schnörkselig denn an platt neoliberal.
http://.../>petra steinberger find ich dort übrigens sehr gut.
katatonik (Dec 20, 12:49 pm) #
Ah so, jetzt verstehe ich. Das mit den verschiedenen Zeitungsteilen kann ich gut nachvollziehen, ist mir auch schon aufgefallen und -gestoßen.
Ich habe den Eindruck, Wirtschaftsjournalismus in deutschsprachigen Tageszeitungen ergeht sich sowieso eher darin, Nachrichten aus der wilden Welt des frei wuchernden Marktes abzubilden und damit den Eindruck zu vermitteln, es sei schon gut, wenn der so wuchere. Oder?
Jedenfalls habe ich beim österreichischen "Standard" den Eindruck, dass Wirtschaftsjournalismus mit Wirtschaftspolitik nur insofern was zu tun haben will, als man die Wirtschaft vor bösen Eingriffen in die wuchernde Marktwelt bewahren möchte. Wenn die Wirtschaftsjournalisten dort was zum Thema Globalisierung usw. zu sagen haben, fällt ihnen wirklich nur neoliberaler Quatsch ein. Hat mich schon oft geärgert.
Man könnte das jetzt natürlich auch so sehen, dass sich linksausgerichtete Journalisten heutzutage eher im Feuilleton ausbreiten und Kultur (im weiteren Sinn) als Politikfeld sehen, sich aber von Ökonomie verabschiedet haben. Historisch gesehen: Hat sich eine ökonomisch interessierte Linke in eine vorwiegend am Ästhetisch-Symbolischen interessierte verwandelt?
katatonik (Dec 21, 12:21 am) #