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- 10 03 2002 - 17:49 - katatonik

Der Anspruch

Aus einem Gespräch von Gerhard von der Handt (DIE) mit Harald Weinrich (nicht vergessen: Romanist und Germanist) über Sprachen und deren Erlernen:

“DIE: Im Augenblick wird über Einwanderungsgesetze diskutiert. In dem Zusammenhang auch darüber, wieviel Sprache man eigentlich braucht, um hier leben, gut leben zu können. Wie viel Deutsch braucht man denn als Ausländer, um gut zu leben in Deutschland?

H.W.: Die Figur des Migranten oder der Migrantin ist sehr vielgestaltig. Vom traditionellen Gastarbeitertypus aus früheren Jahrzehnten bis hin zum Greencard-Besitzer ist der Typus Migrant nicht genau fassbar. Insofern kann man nur schwer allgemeine Aussagen machen. Ich kenne dieses Phänomen aus eigener Anschauung am besten aus der Perspektive der Universität, da ich 14 Jahre am Institut für Deutsch als Fremdsprache der Universität München tätig gewesen bin, wo wir immer viele Hunderte ausländischer Studenten aus rund 25 verschiedenen Nationen hatten. Insofern weiß ich auch, dass diese Studenten und Studentinnen mit großen kulturellen Erwartungen in das Land Goethes, Nietzsches und Max Webers gekommen sind und dass viele von ihnen ein Schreibheft in der Tasche führen und den Ehrgeiz haben, in literarischer Sprache aufzuzeichnen, was ihnen hier widerfährt. Ich will daraus nur eine Folgerung ableiten: Der sprachliche Anspruch der Ausländer an die deutsche Sprache und Sprachkultur ist wesentlich höher, als wir Deutschen meinen. Es geht in vielen Fällen darum, dass wir uns bei den Ausländern, die nach Deutschland kommen, deutsche Sprachkultur wieder zurückholen müssen. Ich kenne viele Inder, Perser, Japaner, Franzosen, Italiener, Spanier, die nach Deutschland kommen und eine viel höhere deutsche Sprachkultur haben als die meisten Deutschen. Bei meinen Studenten und Studentinnen habe ich das beste Deutsch immer in den Arbeiten von Ausländern bekommen. Viel besseres Deutsch als von den Deutschen. Ich habe oft unsere deutschen Studenten und Studentinnen gesagt, geht hin zu den Ausländern und lernt gutes Deutsch von denen. In Sprachkursen ist deshalb die Dauer gar nicht so wichtig, sondern es ist wichtig, ob wir die sprachlichen Qualitätsansprüche der Deutschlerner überhaupt ernst nehmen und bereit sind, sie zu erfüllen. Das ist meine allgemeine Empfehlung. Sprachkurse müssen natürlich auch eine bestimmte Ausdehnung haben. Sprachenlernen braucht Zeit. Vor allen Dingen aber muss es Qualitätserfordernisse erfüllen.

DIE: Wieviel und wofür sollen Migranten also Deutsch lernen?

H.W.: Ein Aspekt, auf den wir Deutschen so leicht nicht kommen, ist für die Ausländer, ob sie so viel Deutsch können, dass sie mit den Deutschen feiern können, Geburtstage beispielsweise. Ob sie in der Firma oder auf dem Rastplatz, wenn ein deutscher und ein belgischer Lastwagenfahrer zusammenkommen, ob sie sich dann über den Motor des Lasters und über die Fahrtbedingungen richtig verständigen können, ist weniger wichtig, als dass sie in der Lage sind, miteinander über ihre Familien zu sprechen, von ihren Kindern zu berichten, überhaupt ihre Geschichten zu erzählen. Identität läuft ja meistens über Geschichten; ich weiß gar nicht, wie man Identität präsentieren kann, wenn nicht in Geschichten. “




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