Weltgeschichte um die Knie
“Meine eigene Knickerbockerzeit waren die Kriegsjahre 1941 bis 1945, als ich in Deutschland erwachsen werden musste. Bis dahin kamen für Knaben wie mich eigentlich nur kurze Hosen in Frage, die eine Handbreit über dem Knie zu enden hatten und im Winter gegen elterliche Vernunft zu verteidigen waren. Ebenso wie viele meiner Altersgenossen aus dem Bürgerstand scheute ich nun den schroffen Wechsel von der kurzen Hose der Knaben zur langen Hose der Erwachsenen und Soldaten und milderte den Übergang durch dazwischengeschobene Knickerbocker, die allerdings in Kriegszeiten offiziell Golfhosen genannt wurden. Von solchen Hosen besass ich zwei, für den Alltag eine grobe auf Bezugsschein, gut fürs Fahrrad, und für den Sonntag eine massgeschneiderte aus feinem Stoff, den mein älterer Vetter als Soldat im besetzten Frankreich eingekauft hatte. – Als ich dann mit 15 Jahren als Luftwaffenhelfer eingezogen wurde, war es mit diesem Hosenluxus vorbei. Im Dienst trug ich nun meistens lange weisse Drillichhosen (die militärischen Vettern der Jeans) und bei besonderen Anlässen die blaugraue Luftwaffenuniform, die jedoch zur deutlichen Unterscheidung von den «richtigen» Soldaten mit der Skihose der Hitlerjugend zu tragen war.
Meine privaten Knickerbocker trug ich von da an nur noch an spärlichen Urlaubstagen, nun aber mit der zivilsten Überzeugung als Ausdruck des möglichst verzögerten Übertritts in die erwachsene und militärisch gestiefelte Welt. Mit meiner auf Bezugsschein erworbenen Knickerbockerhose rückte ich auch im April 1945 als «Volksgrenadier» in die Kaserne ein und erhielt auf der Kleiderkammer sogleich die lange, feldgraue Uniformhose, mit der ich ein paar Tage später in Kriegsgefangenschaft geriet.
Als ich nach zweieinhalb Jahren mit der gleichen Hose aus der Gefangenschaft entlassen wurde, waren in den Strassen meiner zerstörten Stadt weit und breit keine Knickerbocker mehr zu sehen. Stattdessen, ebenfalls aus Amerika stammend, die Jeans, die auf ihre Weise auch höchst zivile Hosenwunder sind, aber einem anderen, nicht mehr meinem Ritus angehören.”
Harald Weinrich über Knickerbocker.