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- 27 08 2002 - 02:36 - katatonik

Hiroshima und die Nadeln

Im Hiroshima der Neunziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts hatte ich einige Jahre lang die Ehre, einmal pro Woche einer kleinen Gruppe faszinierender Japaner Deutsch beizubringen. Nun ja, man plauderte eben recht angeregt vor sich hin und gelegentlich trieb mir Frau S. mit ihren beachtlichen Kenntnissen der deutschen Grammatik die Schamesröte ins Gesicht. Ich glaube, es hat ihr Spaß gemacht; mir auch.
Heute habe ich mal wieder einen alten Yahoo-Mail-Account überprüft, den ich damals angelegt hatte.
Dorthin hatte mir also im Mai dieses Jahres Herr A., der als Mitglied irgendeines philantrophischen Vereins für den japanischen Dialog mit Ausländern unter anderem unglaublich detaillierte Broschüren über Hiroshima auf Deutsch verfaßt, den letzten Entwurf einer ebensolchen Broschüre geschickt – eine sehr einnehmende, gelegentlich auch eigenwillige, Mischung aus Bemühung um faktisch-statistische Genauigkeit, Streben nach tourismusrelevanter Information und dem Wunsch, eben jenes Hiroshima plastisch zu machen, das einfach so ein Städtchen in Japan war und ist, weder Weltfriedens- noch Kriegsapologetensymbol.
Folgendes schreibt Herr A. in seiner Broschüre über Nadeln und Hiroshima:

“1. Geschichte der „Hiroshima-Nadel“
Die Geschichte der Nadelindustrie in Hiroshima begann vor etwa 300 Jahren während der Edo-Peridode, als Chizaemon Kiya, ein Handwerker aus Nagasaki, von seinem Feudalherrn, der Asano-Familie, an deren Hof eingeladen wurde. Chizaemon wohnte zu dieser Zeit im Stadtbezirk Koi, wo er zusammen mit seinen Lehrlingen einen kleinen Betrieb zur Herstellung von Nadeln gegründet hatte. Gleichzeitig lehrte er die niederen Krieger des Asano Clans, wie man Nadeln herstellt.

Die Nadelindustrie hat seit der Einführung von Maschinen, ungefähr zur Zeit des ersten Weltkriegs, eine sprunghafte Entwicklung erlebt. Heute nimmt Hiroshima, gemessen an der Produktionsmenge für Näh- und Stecknadeln, die erste Stelle im inländischen Markt ein; mit einem Anteil von 100% bzw. 97%. Im Bereich der Haushaltsnähmaschinen liegt Hiroshima an zweiter Stelle mit einem Anteil von 49%. Darüber hinaus läßt sich ein beträchtlicher Anteil anderer Nadeltypen finden, insbesondere Häkelnadeln, Drucknadeln und gerade Nadeln zum Sammeln von Insekten. Mit einem Anteil von 73% wird der größte Teil der Produktion ins Ausland exportiert. Hiroshimas Nadeln sind für ihre gute Qualität in der ganzen Welt berühmt.

2. Die Beruhigung der Seele der kaputten Nadeln
Ein japanischer Brauch, der sich mit Nadeln beschäftigt, ist als „Hari-Kuyo“ bekannt. An diesem Tag legen die Frauen alle kaputten Nadeln beiseite, stecken diese in ein weiches Essen, wie „Tofu“ (Sojabohnenquark) oder „Konnyaku“ (Aronstabkloß) und legen sie vor dem Familien-Schrein nieder. Diese Zeremonie wird durchgeführt, um zu danken, daß die Nadeln, um die Kleidung der Familie zu nähen oder zu flicken, sehr fleißig gearbeitet haben. In der Kanto-Region wird der Tag am 8. Februar begangen, wohingegen die Zeremonie in der Kansai- und Kyushu-Region im allgemeinen am 8. Dezember stattfindet. Gemäß alter Tradition sollen die Menschen an diesem Tag weder zu Hause noch im Geschäft Nadeln verwenden. Dadurch können die vielbeschäftigten Frauen einen Ruhetag von der Näharbeit einlegen. Gleichzeitig wird dieses kleine Werkzeug geehrt.”

Da fällt mir noch ein, dass eines der Dinge, die ein anderer japanischer Bekannter von mir unbedingt von seiner Europareise aus Deutschland mit nach Hause nehmen wollte, Scheren waren. Er meinte, japanische Scheren taugten nichts.


in die antidepressiva-liste aufzunehmen: sich kurz vorstellen, man führe mit katatonik nach japan, für ein halbes jahr wenigstens.

mv (Aug 27, 08:28 pm) #


Ich wuerde auch nur ganz kurz mit katatonik nach japan fahren, das reichte schon.

"Aronstabkloß" ist meinem kleinen Geist nicht bekannt, so dass rein subjektiv die ueberstetzung wenig brachte ;-)

Ich hoffe ja mal, dass mich mein aktueller Arbeitgeber mal nach Japan fahren laesst.

funzel (Aug 28, 08:27 am) #


Diabolische Idee: Während Firmenpartner Hack und ich diverse US-Amerikaner auf "Nazi"-Tours durch D & A karren, weil man aus deren nicht auszumerzender Überzeugung, alle Deutschen wären Nazis, wenigstens Kapital schlagen sollten, sollten wir gleichzeitig vielleicht diverse Westmenschen auf "technologieverrückte Arbeitsameisen"-Tours durch Japan karren. Wahlweise bieten wir auch "Zen"-Tours.
Man nennt das dann "verstehender Tourismus": Tourismus, der Verständnis für die Bilder des Touristen vom Reiseland hat, sie einspruchslos anerkennt und nicht auf schändlich arrogante Weise versucht, sie zu verändern.

katatonik (Aug 28, 10:52 am) #


:-)

funzel (Aug 28, 11:00 am) #


Ich verstehe den Tourismus so gut, dass ich gleich zu Hause bleibe.

gHack (Aug 28, 11:48 am) #

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