Mac und die Bar
Den Mann zur Linken in diesem (retrodigitalisierten) Foto, irgendwann zwischen Herbst 1994 und Frühjahr 1999 aufgenommen, kannten wir alle als “Mac”. Woher der Name stammte, weiß ich nicht mehr. Dass er mit bürgerlichem Namen Masanori Kono hieß, entnahm ich seinem Nachruf aus dem Jahr 2016. Mac führte gemeinsam mit seiner Frau oder Freundin (wer weiß das schon) Yuri — der genuin freundlichste und großzügigste Mensch, den man sich vorstellen kann — und einem dritten Freund, den wir nur als Boku kannten, eine Bar in Hiroshima. Sie war damals mein zweites Wohnzimmer, oder, sagen wir, mein eigentliches Wohnzimmer, denn mein Wohnzimmer war eine reine Arbeitsstätte zur Abfassung meiner Dissertation und zur Zwischenlagerung von Lebensmitteln in zweifelhaften Reifungszuständen.
Die Bar war ein Ort mit wechselndem Charakter. Am frühen Abend kamen oft Salarymen oder Sekretärinnen vorbei, hörten Jazz und plauderten, oft über Musik. Aficionados irgendeiner Musikrichtung (Blues, Jazz, Obskures), die Mac zu schätzen wusste, brachten neu erstandene Tonträger mit, die dann aufmerksam sondiert wurden. Später kam die internationale Englischlehrer-Crowd dazu, auch einige Studierende, und eine sehr diverse Schar japanischer Stammgäste. Die Sperrstunde wurde flexibel gehandhabt. Am Wochenende dann eine Wendung in Richtung “meat market”, Marines von der nahegelegenen US-Militärbasis in Iwakuni, peruanische oder brasilianische Nisei, die in der Mazda-Fabrik arbeiteten, und junge Japanerinnen. Da wurde es heftiger, es wurde viel getanzt in der kleinen Bar, noch mehr gesoffen, gelegentlich auch gestritten und manchmal geprügelt. Eine Zeit lang ging ich mit Vorliebe gern zwischen sich anbahnende Prügeleien, was ganz gut funktionierte, da die Trotteln aller Nationen immerhin die Überzeugung gemein hatten, dass man fremde Frauen nicht schlug. Yuri war darin übrigens auch sehr gut. Sie war klein und zierlich, konnte aber mühelos selbst die wütendsten Doppeltür-Schrankmänner beruhigen, no problem.
Mac’s Bar war keine typische Gaijin-Bar, die vorwiegend von Ausländer*innen frequentiert wird und von Japaner*innen, die Ausländer*innen kennenlernen wollen. Diesen Aspekt gab’s auch, aber eben noch viel, viel mehr und anderes. Manchmal gab es Konzerte, Mac selbst an der Gitarre, auch ein paar seiner Freunde. Es gab magische Nächte und belanglose, es gab große Dramen und peinlich auf groß inszenierte. Es konnte da ruhig sein und zart, fast intim, dann wieder laut, lebhaft und gesprächig, voll, rhythmisch und exzessiv, schleimig, schmierig und abstoßend. Es konnten eben alle kommen. Wirklich alle. Und die Drinks waren gut dimensioniert; Yuri trank keinen Alkohol, und ihre Großzügigkeit führte zu eher, sagen wir, umwerfenden Whisky-Sodas. Und sie merkte sich die musikalischen Vorlieben ihrer Stammgäste genau. Sie spürte mit geradezu unheimlicher Präzision, wann ich “Spinning Away” von Brian Eno und John Cale brauchte und tanzte dazu mit mir; wir wirbelten oft im Kreis.
Ich lernte verdammt viele Lebenswelten kennen, oder zumindest in sie hineinzublicken — peruanische Fabriksarbeiter, brasilianische Zahnarztstudenten (Danke für die Plombe!), texanische Gitarristen, schwarze US-Marines aus den Südstaaten, neuseeländische Englischlehrerinnen, australische Aikido-Lehrer, britische Koto-Musiker, gestrandete oder gerade im Stranden begriffene Existenzen unterschiedlichster Provenienz, tragische Personen, denen ihr Lebensverlauf zwischen Japan und anderen Ländern nur einen beständigen Sinkflug zwischen allen Stühlen gestattete, und eine Vielfalt an japanischen Charakteren mit spannenden Marotten, die selbstverständlich jedem Klischee mangelnder Individualität im japanischen Volke spotteten. Oft dachte ich an die Bar in “Star Wars” mit ihren unterschiedlichen Aliens, die alle miteinander und aneinander vorbeireden, und das ist dann das Selbstverständlichste auf der Welt, eine beiläufige Form von Gemeinschaft. Um die Kerntruppe der Barbelegschaft scharte sich eine nicht genau definierte Familie aus Freunden und Bekannten, ein Netz, das über Japan, Kanada und Großbritannien gespannt war; ich gehörte irgendwann punktuell dazu und fühlte mich geehrt, zu Picknicken in der Kirschblütensaison und Neujahrsfeiern im riesigen alten Holzhaus von Bokus biologischer Familie eingeladen zu werden (gegrillte Austern mit Sake).
Die Bar befand sich als einziges Lokal in einem schmalen Gebäude am Ende einer überdachten Einkaufsstraße im Zentrum Hiroshimas, im obersten Stock. Das Gebäude war heruntergekommen, die Bar recht dunkel, und das war auch gut so. Die Toilette war legendär, und das nicht aufgrund ihres hervorragenden hygienischen Zustands. Die Treppe war schmal, und es ist ein Wunder, dass sich kein besoffen nach unten Stolpernder hier je das Genick brach. Unter “normalen” Japanern hatte Mac’s Bar keinen guten Ruf; mir wurde an der Universität verklausuliert angedeutet, ich möge mich doch vor schlechter Gesellschaft hüten. Je nun.
Es war gegen Ende meines Aufenthalts, als die Bar schließen musste, da das Gebäude abgerissen werden sollte. Sie wurde an einem neuen Ort unweit davon bald wieder eröffnet. Mac und Yuri kamen einmal während einer Europareise nach Wien, das muss 2000 oder 2001 gewesen sein; ich ging mit ihnen ins Nachtasyl, ein heute nicht mehr existierendes Kellerlokal, von Exiltschechen begründet, mit Gulasch und Knödeln tschechischer Art. Das gefiel ihnen. Ein paar Jahre später war ich wieder in Hiroshima zu Besuch und dann noch ein paar Jahre später (dann mit G.) und schaute natürlich in Mac’s Bar vorbei. Menschen, bei denen man weiß, man kommt durch die Tür, und es wird sich so herzlich anfühlen wie immer, egal, wie viele Falten mehr und Hirnzellen weniger man hat.
Über meine Zeit in der Mac-Bar könnte ich Romane schreiben, wenn mein Gedächtnis besser wäre, nicht so viel Inkriminierendes über noch lebende Personen darin vorkäme und ich einen Weg fände, Sentimentalität und Schwärmerei zu unterdrücken. Das fiele mir aber wohl in der Retrospektive schwer, wie dieser ausufernde Text zeigt, der eigentlich ganz kurz hätte sein sollen, nur ein Begleittext zu dem Foto von Mac, das mir gestern in die Hände fiel.
Über Mac selbst kann ich weniger sagen. Er war da, sprach nicht viel, spielte stumm Go oder Shogi mit Stammgästen, und überließ das Bargeschäft gern Yuri und Boku, wenn es im Laufe des Abends voller wurde. Dann verschwand er an unaussprechliche Orte. Man munkelte über Spielhöllen und Yakuza und sowas; spätnachts kam er dann wieder und löste Yuri ab. Einmal erzählte er mir von seiner Zeit in Tokyo in den 1960er Jahren, wo er eine unabhängige Radiostation gegründet oder geleitet hatte, oder dort gearbeitet, ich weiß es nicht mehr. Es war jedenfalls ziemlich revolutionär und total Underground. Dann holte er eine Flasche Alkohol mit einer Schlange drin hervor — ein Habushu — und schenkte mir großzügig ein; ich war gerade von einer kurzen Reise auf die Yaeyama-Inseln (Okinawa) zurückgekehrt und erzählte begeistert. Mac ist einer jener Menschen, deren Stimme ich noch im Kopf hören kann, jedenfalls.
Danke für den Text, diese Bar scheint ja ein wirklich magischer Ort gewesen zu sein. Sentimentalität und Schwärmerei zu unterdrücken, finde ich keine gute Idee, also ich hätte an einem Roman über die Mac-Bar auf jeden Fall Interesse, wenn er ähnlich sentimental und schwärmerisch wie dieser Post wäre. Um einen Roman zu schreiben, ist es ja sowieso besser sich nicht an alles zu erinnern, sondern die Phantasie zu bemühen. Oder?