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- 3 05 2002 - 02:08 - katatonik

Der Theoretiker und der Zollbeamte

”... Und noch ein wichtiger Punkt läßt sich an diesem historischen (aber noch nicht vergessenen) Streit zwischen Naturwissenschaft und Theologie erkennen: nämlich daß es eine grobe Vereinfachung – wenn auch eine gelegentlich vielleicht nützliche Vereinfachung – wäre, wenn man annehmen würde, daß die Theologie nichts weiter wollte, als eine ganz bestimmte Frage über die Natur der Welt zu beantworten, während die Geologie und die Biologie ihrerseits nichts weiter wollten, als die Antworten auf andere, auch ganz bestimmte Fragen über die Natur der Welt zu finden. So etwas könnte man vielleicht von Zollbeamten sagen; denn die stellen ihre Fragen der Reihe nach, und zwar deshalb, weil sie ein Formular mit numerierten Fragen vor sich liegen haben. Theoretiker dagegen haben es nie mit einzelnen Fragen zu tun, und sie besitzen auch keine Vordrucke, auf denen ihre Fragen der Reihe nach aufgeführt sind. Theoretische Probleme bestehen meist aus einem ganzen Knäuel von Fragen, die auf eine oft komplizierte Weise miteinander verwickelt sind und einem schlüpfrig aus den Fingern gleiten können. Es kommt vor, daß ein Theoretiker die Antwort fast schon haben muß, bevor er seine Frage richtig stellen kann. In vielen Fällen kennt er noch nicht einmal die Umrisse der Theorie, nach der er sucht, von der exakten Form der auftretenden Fragen und ihren wechselseitigen Zusammenhängen ganz zu schweigen. Und oft läßt er sich — wie wir noch sehen werden — von der Hoffnung leiten (oder auch irreführen), daß die bisher sichtbar gewordenen Fragmente seiner neuen Theorie sich nach dem Vorbild einer bekannten und respektablen Theorie zusammenfügen lassen, die auf einem anderen Gebiet erprobt und wenigstens soweit vervollständigt worden ist, daß man ihren logischen Bau erkennen kann. Hinterher ist man natürlich immer klüger und sagt dann leicht: „Diese Leute hätten aber sehen müssen, daß die Behauptungen, um die sie sich da gestritten haben, gar nicht zu unverträglichen Geschichten der gleichen allgemeinen Form gehörten, sondern zu höchst verträglichen Geschichten ganz unterschiedlicher Form.” Aber woran hätten sie das denn sehen sollen? Probleme und die Lösungen von Problemen sehen schließlich nicht aus wie Spielkarten, bei denen man Zahl und Farbe auf den ersten Blick erkennen kann. Bei diesem Spiel weiß man meist erst hinterher, was die Trümpfe gewesen sind.”

Nochmals Gilbert Ryle. Paßt irgendwie dazu.

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