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- 26 08 2002 - 00:34 - katatonik

Libertärer Pessimismus

“… Theoretiker würden sich angesichts der von privaten Wachgesellschaften geschützten Vorstadtenklaven über die Unsinnigkeit des Rechts mokieren, jeden Rechtsverstoß als im Prinzip gut hinstellen und sich gleichzeitig über Kindesmißhandlungen Sorgen machen.
Protest wäre immer noch möglich; aber weil das System sich sofort wie eine Qualle um den störenden Fremdkörper legte und dann erstarrte, würde das Empfinden auf radikaler Seite entsprechend gespalten – in einen reizbaren Pessimismus auf der einen Seite und in die belebende Vision endloser Differenz, Mobilität und Spaltung auf der anderen Seite. Die Kluft zwischen all dem und der trostlos determinierten Welt des sozialen und wirtschaftlichen Lebens erschiene zweifellos entsetzlich groß; aber der Abstand verringert sich möglicherweise, wenn man sich um die wenigen noch bestehenden Enklaven kümmert, in denen all dies heimisch werden könnte, in denen Vergnügen und Verspieltheit, soweit noch nicht vom Machtsystem vereinnahmt, genossen werden könnten. Mögliche Kandidaten für diese Rolle wären wohl die Sprache und die Sexualität, und folglich wäre ein enorm gesteigertes Interesse an diesen Dingen zu erwarten. Konferenzreferate mit Titeln wie »Die Rückführung des Anus in den Coriolanus« würden eine große Gemeinde verzückter Fans anziehen, die wenig von der Bourgeoisie, dafür um so mehr von Sodomie verstünden.
Die entsprechenden Extrempositionen von Pessimismus einerseits und Euphorie anderseits würden aber auch hier wieder auftauchen: Einige Theoretiker würden zu bedenken geben, wie der Diskurs und die Sexualität ihrerseits kontrolliert, reglementiert, und machtdurchdrungen seien, während andere weiterhin von einem >befreiten Zeichen< oder ungehemmter Sexualität träumen würden. Der radikale Impuls würde nicht aufgegeben werden, aber er würde schrittweise vom Verändernden zum Subversiven übergehen, und nur in der Werbebranche würde man noch von Revolution sprechen. Die Euphorie einer früheren, hoffnungsvolleren Phase des Radikalismus würde überdauern, aber sie wäre nun gekoppelt mit einem hartgesottenen Pragmatismus als Ergebnis desillusioniererter Erfahrungen, und so käme es zu einem frischen Stil linker Ideologie, die man vielleicht libertären Pessimismus taufen könnte. Man würde weiterhin von einer utopischen Alternative zum System oder gar zum gesamten Konzept eines Systems oder Regimes als solchem träumen, aber gleichzeitig verbissen auf der Aufsässigkeit der Macht, der Schwäche des Ego, auf der Absorptionskraft des Kapitals, der Unersättlichkeit des Begehrens, auf der Unausweichlichkeit des Metaphysischen, der Unvermeidbarkeit des Gesetzes, auf den unbestimmbaren Wirkungen politischen Handelns und somit auf der Zerbrechlichkeit der eigenen, geheimsten Hoffungen bestehen. Den Traum der Befreiung würde man nicht aufgeben, gleichzeitig aber die Naivität all derer verachten, die so verblendet sind, zu glauben, daß er jemals realisiert würde.
Man könnte auf Leute stoßen, die das Ende der Menschheit herbeiwünschen und gleichzeitig liberaldemokratisch wählen.”

Terry Eagleton: “Die Illusionen der Postmoderne”. Aus dem Englischen von Jürgen Pelzer. Stuttgart/Weimar 1997: Metzler, Zitat S.4-6.

Das Zitat stammt aus dem Vorwort, einer Erzählung, die überlegt, was wohl gedacht werden würde oder geschehen würde, wenn eine radikale Bewegung eine eindeutige und klare Niederlage erlitte. Hier hatte ich übrigens schon einmal aus einem ausführlichen Interview mit Terry Eagleton zitiert.

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