Freiwillige Einschmälerung des Erkenntnishorizonts
Um den Erkenntnishorizont zu erweitern, im Holthusenbad unlängst nicht in die Sauna, sondern in Schwimmbad und Therme. Es gibt hier nicht, wie aus Wien bekannt, geschlechtergetrennte Kästchenzonen, sondern versperrbare Umkleidekabinen und versperrbare Kästchen für Mensch und Mensch. Das hat den Vorteil körperlicher Humanismusförderung, gleichzeitig den Nachteil umständlicher Krambeförderung, da der in Badekleidung umgewandete Mensch sodann seine sämtlichen Kleidungsstücke nebst Schuhen, Taschen und allfälligen Kleinwägen durch den Raum zum Kästchen tragen muß. Humanismus gefördert, Kram befördert, so läuft das.
Zum Schwimmbecken gelangt man über eine ansprechende Brücke aus Metall, die nach Zwanziger Jahren aussieht. Im Saunabereich hängen übrigens überall große Fotoposter an den Wänden, mit anno Badenden von anno dazumals. Gleich hinter der Bar hängt eins mit einem verwegen lehnenden jungen Mann in und aus den Zwanzigern. Verwegen sieht er deshalb aus, weil er verwegen dreinschaut und sein Gemächt, nun ja, verwegen gegen den Stoff der Badehose gerade noch baumelt (sich gerade noch nicht streckt) – die kecke Zwischenstufe badetextilöser Verwegenheit.
Das Schwimmbecken ist mickrig, so etwa 20 Meter lang und ein Drittel so breit. Der Raum ist hoch und schön. Die Liegen leer, das Becken halb. Man schreitet in das Becken wie in einen Strand, ohne Stufen, einfach über Schrägrampe. Es wird nicht sehr tief. Die Badeaufsicht, oder wie immer die Zuständigkeit hierzulande heißt, sitzt in einer Glaskabine direkt neben dem Becken, was doch irgendwie aufdringlich und unangenehm wirkt. Ertrinken kann da sowieso bestenfalls Lupo, der halslose Liliputaner, aber der geht eh nie ins Bad. Also wozu die unmittelbare Permanentbeäugung, zumindest potenziell (permanent)?
Die wenigen, die hier schwimmen und nicht einfach baden, pendeln in schierer Verzweiflung quer durchs Becken, was vermutlich bei erhöhter Geschwindigkeit zu Schwindelanfällen führt. Von Zeit zu Zeit ertönt ein lautes Signal und es brausen Wellenteppiche durchs Becken. Das macht Spaß und sorgt für Bewegung. Sonst nichts.
Es gibt ein Außenbecken. Das haben hier scheinbar viele Bäder. Auch das Außenbecken ist mickrig. Hier aber schwimmen Hartgesottene rasch Längen auf und ab, was etwas lachhaft wirkt – bei all der Mickrigkeit so auf Profizischer zu machen. Dass zwischendurch auch zwei ältere Damen im Raddampfertempo tratschend durchs Becken walzen, es verleiht unwohliges Heimatgefühl. Ich nehme an, der Zuruf “schleicht’s eich!” würde hier nicht verstanden werden, habe das aber noch nicht am (noch) lebenden Objekt getestet.
Aus unerfindlichen Gründen ist das Wasser im Außenbecken, wo die Luft kalt ist, kalt, wogegen das Wasser im Innenbecken, wo die Luft warm ist, warm ist. Dennoch liegt über der Außenbeckenwasserfläche eine Dampfschicht. Die wird vielleicht heimtückisch über Düsen eingeblasen, damit sich die Schwimmenden in wärmerem Wasser wähnen. Wer beim Schwimmen draußen den Kopf hebt, kommt gelegentlich in den urban-reizvollen Anblick vorbeiziehender S-Bahn-Züge. Wer nicht, der nicht.
Die Therme besteht aus zwei Becken voll Warmwasser und einem kleinen, mittig gelegenen Becken mit flüssigem Eis. Das ist vermutlich deshalb in der Mitte, damit alle im Warmen Dampfenden sehen können, wie sich Waghalsige in flüssigem Eis benehmen. Sehr cool, natürlich. Man steigt langsam aus raus, und gekreischt wird nicht.
An einem Rand gibt es einen Kneippweg, auf dessen Begleittafel dem Benutzer Benutzung im “Storchengang” empfohlen wird. Da ich nicht weiß, wie Storchen gehen und stilistisch eher der hier wohl unüblichen Haushuhnbewegung zuneige, verzichte ich auf Dr. Kneipp. Ein sehr dicker Mann hält seine Beine abwechselnd in heißes und kaltes Wasser, da, wo es Heiß- und Kaltwasserhähne mit Fußbottichen gibt.
Im einen Thermenbecken läuft Wassergymnastik. Wassergymnastiktrainerin zu sein muß deprimieren: Man steht draußen, die Befehlsempfänger stehen drinnen, und was die genau tun, sieht man wegen des lichtbrechenden Trägermediums nicht so wirklich. Außerdem muß man laut schreien, um das Wassersprudeln und –plantschen im Riesenraum zu übertönen. Die Bewegungen sind auch eher langsam; die Luft schläfert dampfend ein. Überdies erfordert es wohl einige Selbstbeherrschung, angesichts einer mit kleinen blauen Schaumplastiktellern hantierenden Truppe von Menschen mittleren Alters, die brustweit in Wasser stehen, das kälter als ihre allfälligen ausblubbernden Körperflüssigkeiten nicht ist, nicht in Lachanfälle auszubrechen.
Ich wandte mich ab und dem anderen Becken mit seinen einblubbernden Randdüsen zu. An der Beckenstirn stand das nilpferdgrüne Imitat eines römischen Plätscherbrunnens herum, von dem aus warme Wasserstrahlen hinabschossen, durchaus mit Wucht. Eine Mutter rächte sich an ihrem mit Schwimmreifen bewehrten Minikind, das dort mit Vattern rumplantschte, indem sie dem Kind, wo es gerade unterm Wasserstrahl war, sagte, “guck mal nach oben”. Das Kind war klug und tat es nicht.
Durchweicht und –wässert liegt und liest es sich gut, dachte ich, und ließ mich mit Feridun Zaimoglus Roman “Liebesmale, scharlachrot” auf einer Liege nieder. Nach drei Seiten brauste plötzlich glockig-flockiges Midi-Gedudel aus dem Lautsprecher über mir. Die Gymnastiktrainerin trainierte nicht mehr, sondern schritt von hier nach da und zündete Kerzlein an. Das Licht wurde gedämpft, im Wasser gingen Unterwasserlichter an, gedämpfte. Mein Hilfeschrei erstickte im Gedudel. Ich konnte gerade noch flüchten.
Als ich drüben, im Schwimmbad, Liegen & Lesen fortsetzen wollte, begann eine andere Gymnastiktrainerin mit Wasser-Aerobic. Es gab keinen Ausweg: Schmalbrust-Techno oder Schwachbrunz-Entspannungsgedudel. Die Suche nach entscheidungsförderndem Bier führte ins Nichts der geschlossenen Caféteria. Aufzahlen und in die Sauna? Aber was, wenn dort finnische Saunagesänge aus Saunaofenlautsprechern tönten oder die saunaeigene Stille (wg. Fehlen von Wassergeplätschere im Ruheraum) durch tumben Saunatratsch gestört würde?
Also doch wieder zum Schwachbrunzgedudel, erst. An einer Beckenecke hatte eine der jungen Badebediensteten einen riesigen Gong aufgestellt. Sie stand da vor einer blonden Baderin, erzählte der wohl was, gestikulierte bewegungsvorführend herum und betätigte gelegentlich den Gong. Ob das bei der Baderin zu etwas führte (Bewegung von Körper oder Bewußtsein), konnte ich nicht sehen. Die andere Badebedienstete ging von hier nach da und zündete noch mehr Kerzlein an. Der Römerbrunnen war versiegt. In dem einen Becken trieben erwachsene Männer und kleine Knaben am Wasser, an der Oberfläche gehalten von bunten Schaumplastikwürsten. So ungefähr müssen sich Ethnografen beim Beobachten vorkommen, nicht wissend, ob sie gerade arbeitsamtsverordneten Beschäftigungsmaßnahmen, tragischen Suizidversuchen, künstlerischen Darbietungen oder geheimnisvollen Kulthandlungen beiwohnen, an deren Abschluß Blut und Gedärme fließen. Nach zehn Seiten Zaimoglu wieder nach drüben, zum Schwimmbecken.
Aerobic vorbei, die Musik leiser gestellt. Liegen, lesen. Nach fünf Seiten ein anhaltendes Spritzgeräusch, das näher kommt. Ein junger Badebediensteter hat offenbar den Auftrag, sämtliche Fliesen in Bodennähe mit flüssigem Eis abzuspritzen. Er kommt näher, ich krieg Sprühnebel auf die Schultern. Er dreht die Runde, es gibt Sprühnebel auf die Zehen. Er dreht die Runde noch einmal und meint, “nicht erschrecken, wenn Sie naß werden”. Ernsthaft: “Nicht erschrecken, wenn Sie naß werden.” Er fand das witzig und obendrein hilfreich. Darauf gab es den bärbeißige Quengeltante-Modus mit einem hingerotzten “was heißt da, nicht erschrecken, Sie können doch einfach woanders rumspritzen, dann muß ich gar nicht nicht erschrecken!”. Seine Antwort wurde von den akustischen Weiten des (hohen) Raumes verschluckt. Ich auch.
Am Weg zum humanistischen Umkleiden dann den beiden Thermenvestalinnen begegnet. Die eine gefragt, ob’s in der Therme denn immer Musik gäbe. Ja, es gäbÂ’ immer Musik, nur am Wochenende nicht. Öh, ich fände das eigentlich eher störend, meinte ich, wie ich meinte, dezent. Sie zuckte grinsend und schokoriegelverschluckend die Achseln. Ich beschloß, meine Vormittage künftig mit Protesttafeln auf und ab gehend vor dem Holthusenbad zu verbringen. Protesttafeln, auf denen “Schluß mit dem Schwachbrunzgedudel!” steht. Nachmittags dann wieder Sauna. Nur mehr Sauna.
Sehr gut, fühle mich hervorragend repräsentiert. Der wassergymnastische Schmalbrust-Techno hat mir zahlreiche Schwimmbadbesuche vergällt. Zum Glück sind Schwimmbadbesuche inzwischen so teuer, dass ich mich nicht mehr so oft ärgern muss.
mv (Nov 3, 01:36 am) #
Der Grundfehler in dieser bescheuerten Wasserfitness-Konzeption ist räumlicher Natur. Beim Rumturnen im Medium Luft verbergen sich die Rumturner und ihre Beschallung in geschlossenen Räumen. Die Nichtrumturner sind also geschützt. In Schwimmbädern hingegen kommt man als Nichtrumturner nicht umhin, sich den akustischen Schwachsinn mit reinziehen zu müssen.
Was zahlt man in Berlin so, schwimmbadmäßig?
Ja, Grundfehler. Man zahlt rund zweihundert Prozent dessen, was man vor drei oder vier Jahren gezahlt hat; bitte hier lang zur Preistafel des Anbieters. Auf meiner Rangliste unterhaltsamer Betätigungen liegt Bahnenschwimmen nur knapp vor dem Wäscheaufhängen, daher kommen ohnehin bloss die drei, vier € 6-Bäder in Betracht, in denen nicht nur Bahnenschwimmen möglich ist. Wenn dann die Schaumplastiktellergruppen mit ihrer Musik kommen und den offenen Zynismus der Wertschöpfungsorientierung pseudoprivatisierter staatlicher Einrichtungen vorführen, entwerfe ich unfreiwillig Trauerreden auf das paternalistische Volksgesundheitsideal. Sowas kann man sich natürlich nicht so oft antun.
mv (Nov 3, 02:11 pm) #