Mäander II
Vor dem Konsulat der russischen Föderation zu Hamburg steht ein grosser Menschenhaufen, draussen, vor dem Gittertor. Ich frage eine junge Dame, worauf die Leute denn warteten. Sie rät, doch einmal vorne zu klingeln, denn die Wartenden wären alle Russen und ausländische Touristen müssten bestimmt nicht so lange warten. Der Mann neben ihr horcht auf. Auch er ist EU-Bürger und wegen eines Touristenvisums hier. Wir gehen durch den nicht-EU-bürgernden Menschenhaufen und klingeln. Man lässt uns ein, erst durch das eine, dann durch das zweite Gittertor. Auf den Stufen vor dem Tor ins Haus stehen einige bullige Männer in ziviler Kleidung. Es würde die Assoziationsmaschine im Hinterkopf nicht verwundern, wenn sie gestohlene Radios verkauften, aber offenbar handelt es sich um offizielles Sicherheitspersonal.
Die Luft im Konsulat ist stickig. Als Touristenvisumsantragsteller wartet man tatsächlich nicht lange. Ich sehe mich selbst im bläulichen Spiegelglas des Antragannahmeschalters. Nur, wenn ich genau hinsehe, erscheint dahinter ein Backwerk kauender dicklicher Mann. Dann wird auch seine Stimme hörbar. Solange ich ihn nicht sehe, kann ich ihn nicht hören.
Er nimmt meinen Antrag entgegen. Er gibt mir den Antrag zurück. Er gibt mir einen Zahlschein. Ich müsse zur Bank, das Geld einzahlen, und dann wiederkommen mit dem Belag, nicht warten, gleich zum Schalter. Der Auch-Antragsteller von vorhin fragt hoffnungsvoll, ob man denn nicht bar bezahlen könne. Nein, kann man nicht.
Wieder hinaus, durch die zwei Gittertore und am Menschenhaufen vorbei. Das erste Gittertor kann ich selbst öffnen, indem ich der Aufforderung folge, einen Knopf zu drücken und gleichzeitig das Tor aufzustossen. Das zweite wird von einer am anderen Ende einer Video-Überwachungsanlage sitzenden Person geöffnet. Ich muss eine halbe Minute warten. Eine halbe Minute vor einem Gittertor stehen und den wartenden Menschenhaufen auf der anderen Seite betrachtend, wie er das Tor von der anderen Seite betrachtet und auch mich.
Es bedarf einiger Bank-Abklapperungen, bis der Betrag eingezahlt werden kann, sowie einer kopfschüttelnden Alterserkenntnis. Dass man heute mindestens fünf Euro bezahlt, wenn man auf das Konto einer fremden Bank etwas einzahlt. Als ich das zuletzt tat, es muss noch vor einem seither geführten Krieg gewesen sein, oder vor deren mehreren, da waren es fünf Schilling.
Es geht zurück. Die Gittertor-Szenen werden nun, da sich das Konsulat seiner mittäglichen Schliessung nähert, dramatischer. Es kommt Bewegung in den Menschenhaufen. An der Klingel verhandeln russisch sprechende Warter mit einer Stimme dahinter, die vermutlich zur gittertoröffnenden Person gehört. Sie wenden sich frustriert von der Sprechanlage ab. Ich klingle und sage, ich käme wegen eines Touristenvisums. Das hat ja schon mal funktioniert. Die Stimme sagt, ja, aber die Tür öffnet sich diesmal nicht sofort.
Die Verhandler von zuvor verhandeln noch einmal. Die Tür geht auf. Eine dicke Frau, zwei Männer und ich, wir gehen hinein. Wir stehen vor dem zweiten Tor, als eine junge Dame von hinten uns wieder rausruft. “Alle raus”, sagt sie, die Botschaft des durch die Sprechanlage kommandierenden Türöffners weiterleitend. Die Verhandler verhandeln. Ich warte. Der Auch-Antragsteller taucht wieder auf, auch zurück von der Bank.
Die Verhandler gehen hinein. Schon sind andere Verhandler da. Sie haben alle Nummern. Warum haben die Russen Nummern und sonst niemand? Wo kommen die Nummern her? Undurschaubare Wartesysteme, die mich an einen grauenvollen Tag am Moskauer Bahnhof erinnern, als mich ein solches Wartesystem den linken Bügel meiner Brille kostete, was letztlich etlichen Bürgern Zentralasiens einen Anblick einer Reisenden ohne linken Brillenbügel bescherte. Wahrscheinlich wird Kleinkindern in Dunhuang heute noch in der Schule beigebracht, es gäbe im Westen Sekten alleinreisender junger Frauen, die sich durch fehlende linke Brillenbügel auszeichnen. Ich trage seither auch übrigens mit Vorliebe schiefe Brillen.
Drei Verhandler-Verhandlungen später klingle ich wieder, mich fragend, wie das so ist, wenn man den ganzen Vormittag irgendwo im russischen Konsulat sitzt, Klingeln hört, mit Klinglern und Verhandlern redet, während man sie über die Videoanlage beobachtet, ihre Akten und Datensätze aus Systemen holt, um über ihre Einlassung ins Konsulat zu entscheiden, sie einlässt, ganz oder nur bis hinters erste Gittertor, um sie dann wieder hinaus zu beordern, wenn man hinaus Wollende kurz vor dem Gittertor warten lässt, zusieht, wie sie Menschenhaufen betrachten und von ihnen betrachtet werden.
Diesmal funktioniert der Touristenvisums-Spruch. Der Auch-Antragsteller und ich gehen nach innen und stellen Anträge. Beim Herausgehen bemerke ich, wie sich einer der potenziellen Radioverkäufer-Sicherheitsmänner zu einer blauen Plastik-Kiste beugt und sie füttert. Ja, der dritte Sicherheitsmann des Konsulats der russischen Föderation zu Hamburg, der mit dem geblümten Hemd, füttert kurz vor Betriebsschluss auf den Stufen des Konsulats ein Kätzchen.