Moralischer Minderwert
Gestern im ICE einen Espresso trinken gegangen, nachdem das stete Fehlerpiepsen des Laptops vom Typ rechts vorne den Bahnschlummer vorzeitig beendet hatte [gleichzeitig aber auch das Eintreten von Bahnschlummersabbern verhindert hatte. Man muss auch das Positive sehen].
Der Rumstehraum im ICE-Bordrestaurant ist leer. Bald wird er von einer espressotrinkenden Dame mit Augenringen bevölkert.
Ein junger Mann tritt ein, lehnt sich hin und macht Anstalten, eine Zigarette zu rauchen. Er raucht. Die Dame hinter dem Tresen fragt ihn, was er möchte. Nur rauchen, sagt er.
Eigentlich wäre das ja nicht gestattet, sagt sie. Wie?
Eigentlich sei die Benützung dieses Raumes nur bei Verzehr gestattet. Man dürfe hier rauchen, wenn man verzehre, aber sonst nicht. Der junge Mann verfällt in dieses konsternierte Schweigen, das sich bei Inerinnerungrufen unnötiger Verbote einstellt. Ich blicke solidarisch zu ihm. Wir schütteln die Köpfe schweigender Indignation.
Jaja, spricht die Frau hinterm Tresen weiter, wenn hier alles voll sei, müsse es eben Prioritäten geben, sodass man sagen könne, wer darf da sein und wer nicht.
Ich blicke in den leeren Raum und frage mich, ob sie sie sieht. Die Leere. Aber sie könne da schon mal eine Ausnahme machen, fährt sie fort. Die Großzügigkeit der Pingeligen ist ungleich widerlicher als die Kleinlichkeit der gelegentlich von schlechtem Gewissen befallenen Nachlässigen.
Nach einigen Momenten Stille beginnt, was nach konsterniertem Unnötigkeitsverbotsverlautbarungsschweigen beginnen muss: der junge Mann versucht, für das unnötig verlautbarte Verbot Gründe und Gegengründe zu erörtern.
Der Espresso ist so leer wie der Stehraum, und ich gehe, die beiden über der Frage zurücklassend, ob ein im Verzehrraum stehender nichts verzehrender Raucher moralisch minderwertiger sei als ein nicht im Raucherabteil sitzender Raucher, der einem Nichtraucher einen Platz wegnimmt.
Dinge, die man im Billigflieger nicht erlebt. Billigbahnen will man sich erst gar nicht vorstellen.
gHack (Jul 2, 11:37 am) #
oh, der mehrheitsanteilseigner dieses etablissements meldet sich auch mal zu wort. könnten sie nicht mit ihrer anteilsmacht dafür sorgen, dass hier menschliche arbeitsbedingungen einkehren, herr the frank? die socken fühlen sich versklavt und ihre produktivität sinkt sozusagen erdwärts.
katatonik (Jul 3, 01:29 pm) #
bedauere es instaendig, frau katatonik, Sie verwechseln mich. in Ihrem so wundervoll gefuehrten etablissement bin ich bloss sporadischer gast. denn mein faubourg liegt am aequator, nicht in 36. indes empfinde ich mit Ihnen tiefe solidaritaet: bin ich doch ebenfalls mit tiefster machtlosigkeit geschlagen ob der kuehlen indifferenz meiner anteilseigner.
the frank (Jul 3, 04:56 pm) #
Oh, verzeihen Sie, werter Herr, die Verwechslung und somit falsch addressiertes Investorenwehklagen, das virtuelllgeographisch wohl eher hierhin gehört hätte. Es handelt sich überdies um einen Wiederholungstäter, dem die Blogbörsenaufsicht mal das Handwerk usw. usf.
katatonik (Jul 3, 06:16 pm) #