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- 29 08 2004 - 03:09 - katatonik

Diensterleichterung

Der Dienst war getan. Sechs Tage hatten wir täglich drei Stunden einen Abschnitt aus einem neuerdings auch in Sanskrit verfügbaren, grundlegenden Text der buddhistischen Erkenntnistheorie gelesen, verfasst wohl im 7. Jahrhundert. Gelesen, ins Englische übersetzt, dreizehn andere und ich, davon die Mehrzahl Studenten, die (trotz Sommerferienzeit) aus irgendwo anders in Japan extra angereist waren und sich irgendwo in fiesen, billigen Kyotoer Hotels eingemietet hatten und jeden Tag auftauchten, blieben, nickten, Fragen stellten, Zweifel äusserten. Unglaublich, das alles.

Die Jungs aus Hiroshima, vier an der Zahl, hatten nicht nur alle ihre Laptops dabei (die digitale Sanskrit-Bibliothek), sondern auch diverse Wörterbücher und einen Drucker. Klar hatten sie sich vorab schon alle nötigen Materialien kopiert, Kommentare, moderne Übersetzungen ins Japanische, alles, was es halt so gibt. Klar, sowieso.

Der Dienst war samstags, am späten Nachmittag getan. Das Abschiedsessen und -trinken war bereits, ohne als solches deklariert gewesen zu sein, freitags erledigt worden, da samstags die meisten gleich abreisen mussten.

Nach Dienstende sprach ich noch etwas mit W., einem älteren Herrn mit weiss wallendem Haar, Professor hier auch, seit mehr als 20 Jahren hier, der das Akademische mit seiner Rumzitiererei, Autoritätenverneigerei und Oberflächlichkeit nicht leiden mag, mal schnell zwischendurch ein Notizbuch aus dem Regal zieht und dann Goethes Maximen zum Thema Übersetzung vorliest, dann erzählt, wie er gestern, da sitzend und über seinem Vortrag über Vedisches für eine Konferenz nächsten Monat brütend, zwischendurch Gottfried Benns Briefe aus dem Regal zog und las und lachte, laut lachte, so böse, so komisch (wir sprachen gerade über Humor und Kulturdifferenz). Ich hörte ihm zu, etwas erschöpft, auch hadernd mit Übersetzungstheorie, mit diesem Wurzeltum, das die Bedeutung philosophischer Theorien durch Analyse der von Philosophen verwendeten Verbalwurzeln zu ermitteln trachtet, als ginge Philosophie ganz in Sprachtheorie auf, als würde das Verständnis von Sprachgeschichte ausreichen für das Verständnis von Philosophie, als könne es keine falschen Fährten geben. Ich höre bald auf, ich bin müde; mit W. kann ich auch später hadern. Ihm eilt es nicht und auch nicht mir.

Abends spaziere ich herum, komme in der Nähe des Ginkakuji heraus. Im Dunklen gehe ich den so genannten “Philosophenweg”, Steinplatten am Ufer eines Bächleins, alte Häuser, Getränkeautomaten als Beleuchtung. Irgendwo spielt jemand Gitarre und Frauenstimmen singen dazu, Pop. Jogger laufen langsam herum oder stehen an Strassenlampen und dehnen ihre Beine. Splitter aus den Unterhaltungen der letzten Tage, bei Abendessen mit den Studenten (nein, keine Damen dabei), immer irgendwo in einem Japanese-style Extrazimmer, Bier trinkend oder süssen koreanischen Sake, mit Gerichten, die irgendwer für alle bestellt, die nach und nach ankommen, mal mit Erklärung, mal ohne. Angenehm und unterhaltsam, freundlich, mit Konversationsproblemzonen, die ihre Problempotenz nicht entwickelt bekommen. Viele Fragen über Österreich, klar, auch dumme, aber ich lebe nicht mehr hier und deshalb macht dieses ständige Aus-Japan-Hinaus-Versetzt-Werden in Gesprächen nicht viel aus. Etwas, aber nicht viel. Man muss sich von Naivität nicht immer einsäuern lassen, denke ich, während ein Jogger nach Dehnung weiterspaziert.

Als ich im Restaurant “Noanoa” ankomme, ist es schon zu spät, um noch einen ihrer Menügänge zu bestellen. Aber der Chef ist so freundlich und stellt mir gleich eine halbe Flasche Rotwein hin, als ich ein Glas bestelle. Es wäre die letzte, er würde sie mir überlassen. Ich danke und bemerke erfreut, es wäre ja der gleiche Wein, den W. und ich hier vor einer Woche getrunken hatten (damals Menügänge begleitend). Ich sitze draussen im Garten. W. hatte das Restaurant vorgeschlagen, weil man hier eben draussen sitzen könne, was in Japan selten geht. Der Mukuro-Baum lässt diesmal kaum seine harten, grünen Kleinfrüchte fallen. Letzte Woche hatte eine davon die Kellnerin in den Nacken getroffen. Es hatte geschmerzt, natürlich, aber alle hatten gelacht. Auch während des Essens fiel immer wieder eine Frucht knapp an uns vorbei; wir lachten, jedesmal.

Es sind nur wenige Gäste da. Aus dem Innenraum kommt klavierener Softjazz. Ein Abend, gemacht für rotweinsüffeliges Geklimpere, mit einem Gemüt, das nach Diensterleichterung in Melancholie hineinklimpert. Im Halbdunkel des Gartens mache ich mir Notizen. Das Essen ist vorzüglich, italofranzösische Grundlage mit japanischer Geschmacksdetaillierung. Den Weg zurück ins Gästehaus gehe ich zu Fuss. Am Himmel flüchten Wolkenstreifen vor dem nahenden Taifun. Ich denke an verlorene Lieben, an deren Schauplätzen ich zufällig vorbeikomme, und bin erleichtert. Den Rotwein konnte ich nicht ganz leeren.

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