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- 9 06 2018 - 00:00 - katatonik

Vom Sitzen auf Dächern in den Läuften der Zeit

Damals das neu gebaute Haus, an der Ausfallstraße des Dorfes, naja, an jener Straße, die zum Friedhof führte und daran vorbei durch Felder und in einen Wald, mit Gabelungen, wo die Seitenwege dann „Güterweg“ heißen mussten. Es war groß und außen weiß, Eternitdach, innen Textiltapete Jute fast überall, Klinkerfliesen im Keller, braune Spanteppiche sonst, fest verbaute Tischlermöbel aus Spanplatte mit Holzfurnier, eine runde Badewanne, beigefarben. Dachschrägen: man konnte durch das Dachfenster im Badezimmer nach draußen klettern, wie ich nach einigen Jahren als Teenager dort entdeckte oder zumindest zum ersten Mal probierte.

Das Haus bestand aus zwei Häusern mit einer Nahtstelle, Überlappung, Kuhle dazwischen, wie immer man das nennt. Dort in der Kuhle konnte ich sitzen, mich an der einen Schräge anlehnen und die Beine auf die andere stellen. Ich las, was man als exzentrischer Teenager in einer sehr katholischen Landregion in den 1980er Jahren eben so liest, Alice Miller, Carlos Castañeda, Heinrich Hesse, und schrieb schlechte Gedichte auf sehr dunkelgraues „Umweltpapier“, was mir kein überlegenes, aber ein gutes Gefühl verlieh, weil es ein Weg nach draußen war. Der Himmel war weit, von der Ausfallstraße her hörte man das eine oder andere Automobil, gelegentlich einen Traktor. Links Felder und Hügel, rechts Garten und Felder. Niemand suchte mich da oben, ich war dort nicht vermutet, nicht erwartet, nicht verdächtigt, sollte dort nicht sein, aber es machte nichts; Eltern registrierten, mißbilligten irgendwie auch, glaube ich mich zu erinnern, aber es gab keinen Streit, keine Intervention.

Heute die Terrasse in der Stadt, ein Gefühl von Luxus, der nicht verdient und etwas beschämend ist, mit von Vorgängern geerbten Plastikrattanmöbeln, die aber recht bequem sind, auch wenn man wie ich das Material blöd findet. Man hört aus der Ferne Automobilgeräusche, jetzt in der Nacht. Am nahegelegenen Bahnhof fahren jetzt keine Züge mehr, Flugzeuge fliegen auch keine mehr über; tagsüber tun sie das, und manchmal raten wir, ob sie in den aufgehenden Mond fliegen oder daran vorbei. Selbst gepflanzte und geerbte Büsche und Weinranken wehen im Wind, der hier oben immer weht. Ein Martinshorn hier, Gelächter von anderen Terrassen dort.

Ich könnte über den Aufgang für die Rauchfangkehrer weiter vorne den Weg in ein Dorthin antreten, wo ich nach den geltenden Bestimmungen nicht sein dürfte. Von dort ist der Ausblick etwas panoramischer, und man sitzt auf einer begrünten Böschung, die der abgefahrene Architekt gestaltet hat. Man bräuchte dann bestimmt einen Joint. Das würde niemand kümmern, denke ich. Ich bin auch sicher, die Teenagersöhne der vorherigen Bewohner haben da gelegentlich. Andererseits wirkten sie so brav, so proper, so höflich, so traurig. In ihren Zimmern keine Bücher, übrigens, nirgends.

Wenn ich am frühen Abend hier sitze, flattern die Amseln vorbei und herbei, die Mauersegler schweben durch die Luft, erst weiter oben, dann schon recht knapp am Dach. Die Fledermäuse haben sich seit dem Frühjahr nicht mehr gezeigt, und G. und ich finden das seltsam. Manchmal segelt der Falke durch die Kamine. Wieso erinnere ich mich nicht an die Vögel von damals, vom Land — wo ich doch aber weiß, dass wir ein Vogelhaus hatten, auch das, völlig bescheuert, vom Tischler?

Hier, jetzt: Der Himmel ist weit, so weit, wie er damals nicht war. Die Landschaft ringsum ist dagegen urban und kleinteilig, es gibt Dächer und Nischen, und manchmal Menschen, die auf ihnen herumlaufen, Tauben und Krähen, Falken und Amseln, Grünfinken, Distelfinken, Meisen. Es gibt Ausblicke auf Gebäude, die fest sind und Jahrhunderte überstanden haben, damals Zentren unnahbarer Macht, heute Magneten für Touristen und Raupen, die beide von Kohlmeisen geschätzt werden.

Die Zeit und ihre Läufte (sagt man das so?) sind hier spürbar, aber nicht homogen. Am Hausdach im Dorf habe ich mich nie nach Geschichte in der Umgebung gefragt, nur nach der Geschichte, die mir Miller, Castañeda und Hesse spiegen konnten, und die sie in mir aufwühlten oder irgendwie suggerierten; es war ja alles sehr eins und alles damals im Innenleben. Diese Art der Geschichte war außen nicht sichtbar, in den Feldern und Wäldern. Hier in der Stadt ist sie das, und ich frage mich, ob ich deshalb so selten hier Bücher lese, weil mir das Lesen der Umgebung genügt. Andererseits ist auch die Zeit anders geworden: Hier sitze ich in einer Präsenz und Gegenwart, umgeben von diesem Geschichtsdingens, das das Internetz darstellt und vermittelt, multimedial, zerspragelt (ein Wort meiner Mutter) in Splitter von Existenzen anderer, die vorbeitwittern. Man kommt vom Hundertsten ins Tausendste und bleibt dort.

Es ist fast Mitternacht. Heute ist der Himmel bedeckt. Einem der Nachbarn geht es nicht so gut, sagte ein Anverwandter auf der Nachbarsterrasse zu jemandem am Mobiltelefon. Shitstormmäßig, weisst eh. Ein paar von den vererbten Pflanzen haben den Winter nicht überlebt; es gibt Totholz, das scheinen die Vögel zu mögen. Wir lassen es stehen, bis wir es nicht mehr stehen lassen werden.

Die Stimmung ist komisch. Ich möchte eine Klammer schließen vom Dach heute zum Dach damals. Dass sich ein Traum erfüllt hätte, den ich zwischendrin vergessen hatte, dass sich ein lang gehegter Wunsch nach dachlicher Freiheit erfüllt hätte, das wäre doch was. Aber das geht nur nach dem ersten Whisky. Nach dem zweiten geht es nicht mehr um das Ich von damals und heute; es geht um das, was ich sehe, und das, was sich nicht zeigt. Und deshalb, auch deshalb, hier in der Stadt: darauf ein Prost, und die Klammern bleiben halt offen.


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(ich auch, fast genau so. mit thoreau auf einem baum.)

pamela (Jun 9, 09:16 am) #

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