Bumming in Baumgarten
Der sonntägliche Fahrradausflug führte in die Nähe des Baumgartner Friedhofs, weshalb ein Besuch von selbigem angeraten schien. (1874 angelegt, übrigens)
Vor einigen Monaten hatte meine heilige Stiefmutter mir wieder ein Paket aus dem reichhaltigen und ungeordneten Fundus der familienbezogenen Papierfetzen überreicht. Sie verteilt die so nach und nach unter denjenigen noch lebenden Anverwandten, von denen sie glaubt, da gehörten sie hin, die Papiere, da würden sie geschätzt.
Besagtes Paket, oder doch eher Packerl, enthielt auf rosa Papier geschriebene Briefe meines Vaters an seine Mutter, aus den Jahren 1944-1945, aus einem Hitlerjugend-Lager in der Hohen Tatra. Nur einer in Schönschrift mit “Heil Hitler!” gezeichnet. Andeutungen von Lagerbriefzensur (“hab den Brief noch einmal schreiben müssen”). Der Sohn will sich offenbar als folgsamer junger Mann darstellen (was ich aufgrund persönlicher Bekanntschaft mit ihm keine Sekunde lang glaube, aber aufgrund persönlicher Bekanntschaft mit seiner furchterregenden Mutter für eine sehr kluge Strategie seinerseits halte).
Er schildert des langen und des breiten die gar entsetzlichen “Schlurfs”, die unzuverlässigen, schludrigen und langhaarigen (über den Kragen!) Gesellen, darunter der Soundso aus dem Nachbarhaus zu Wien, die so schlimm wären und von denen sie, also die Guten, darunter auch er, Abstand hielten. (Der Soundso sei freilich kein gar so Schlimmer, schreibt er beruhigend, den könne man noch zurechtbiegen, er würde sicher bald einsehen, dass er von der rechten Bahn …) Viel Listen von Essen, minutiöse Auflistungen davon, was die Buben heute und gestern und vorgestern im Lager gegessen haben. Dinge, die kaputt gehen (Koffer aus Pappmache), Schilderungen von Reparaturvorgängen, Sparen für Anschaffungen durch heimtückische Manöver (Eintauschen von irgendwelchen Marken, damit man sich Sportschuhe beschaffen kann). Begeisterte Erwähnung der “Wunderwaffe”, von der ihnen der das Lager mit einem Besuch beehrende Herr Soundso erzählt hatte. “Wir sind alle siegesgewiss”, schreibt er, damals übrigens knapp 16. Der letzte Brief des Packerls wurde Anfang Mai 1945 geschrieben, da war er im nördlichen Waldviertel und versuchte, sich zu seinen Eltern durchzuschlagen, die sich beide aus Wien dorthin geflüchtet hatten. (Die Mutter schon früher; zustimmend hatte der 16jährige aus der Hohen Tatra geschrieben “Wien ist jetzt nichts für Frauen und Kinder”, als sie sich im 1944er Jahr ins Waldviertel zurückgezogen hatte.) Anfang Mai also, da schrieb er stolz, man hätte ihnen, den HJ-lern, jetzt auch Schusswaffen gegeben, echte Soundso. Er hat überlebt, worüber es keine Briefe mehr gibt, und ich habe vergessen, wie, und die Gründe dafür sind vielfältig.
Das Packerl enthielt auch einen so genannten “Partezettel”, eine Todesanzeige der Frau Maria J., das war meine Urgroßmutter, also die Großmutter mütterlicherseits meines Vaters. Malersgattin und Wäschereibedienstete, verstorben 1927 nach langer, schwerer Krankheit. Da war sie Mitte 40. Gewohnt hatte sie so fünf, sechs Häuserblöcke weiter nach Ottakring hinein als ich jetzt. Gerade Luftlinie nach Westen stadtauswärts.
Begraben wurde sie am Baumgartner Friedhof. Es wäre natürlich ein merkwürdiger Zufall gewesen, wäre ich gestern, sonntagsausflüglerisch, an ihrem Grab vorbeigestolpert. Statt dessen an zahllosen Jhradals, Warzlobileks und eingravierten Winklers vorüberspaziert. In der Mitte des Friedhofs steht ein weißer Riesenjesus, gewidmet von irgendwelchen Honoratioren in den 1970ern (Passion of Baumgarten). Auf vielen älteren und verfallenen Grabsteinen sind rote Kreuze aufgemalt, so wie ein Abhaken, vermutlich die aufzulassenden. Überall diese Gravurschriften, die gewissen Perioden so eindeutig zugerechnet werden können: die da geht an den Anfang des 20. Jahrhunderts, die in die Fünfziger Jahre, die in die Siebziger, nur für die Dreißiger und Vierziger, da ist nichts Charakteristisches da. Ältere, gebücktere Gestalten gehen umher. Überhaupt, dieses Friedhofbegehen, wie man da immer zwischen den vertikalen Blickverstellern (Grabsteinen) gelegentlich Lebende sieht, so überraschend. Autovorbeiheulen vom Flötzersteig am Nordrand des Friedhofs, auch sonntags (dortselbst übrigens auch eine Müllverbrennungsanlage).
Eigentlich steuert diese Geschichte aber – eingestanden antiklimaktisch – auf das da hin. Frau J. habe ich darüber nicht gefunden (aber es gibt ja auch Telefone), aber immerhin Herrn Hölzel, Johann, bestattet am 14.02.1998, auffindbar auch über seinen Künstlernamen.