Motettaten
Motetten gäbe es da in der Thomaskirche, meinten die Gastgeber, könne man so hin und dem Thomanerchor (Knaben) zuhören, mit musikalischer Untermalung, Gewandhausorchester und so. Samstags 15 Uhr also Motette, Motette, das Wort hängt in den Fingern fest und ist so schön rhythmisch und bezeichnet doch nur mehrstimmigen Kirchengesang, was schade ist, denn solche Rhythmik verdient doch mehr Semantik. Man möge etwas früher hingehen, empfohlen die Gastgeber, die seien nämlich sehr begehrt, die Motetten.
Tatsächlich, die Motette erwies sich als begehrt und der Andrang entsprechend. Am Eingang kassierten schüchterne und choruniformierte Knaben einen Euro Eintritt. Dafür erhielt man auch ein Programm. Wenn man den Kassierknaben ansprach, liess er vor Nervosität das Wechselgeld fallen und schenkte einem dann ein hinreissendes Zahnspangenlächeln.
In einer Kirche zur Messe gesessen, nun ja, das letzte Mal, es muss im September 1985 gewesen sein. Das hier war ja keine Messe, sondern eine Motette, aber das Programm enthielt denn doch messähnliche Teile: Einleitende Worte des Pfarrers, zwischendrin ein Stück Evangelium, dann ein Gemeindelied (“Allein zu dir, Herr Jesu Christ”, Text u. Melodie aus dem 16. Jahrhundert), das unter Besucherbeteiligung zu absolvieren war, dann eine Ansprache des Pfarrers inklusive Gebet (Vaterunser) und segen. Das Programmblatt bat übrigens in Fettdruck, nicht zu applaudieren.
Es gab David (Johann Nepomuk), Schütz (Heinrich), Schein (Johann Hermann), Pachelbel (Johann) und natürlich Bach (Johann Sebastian). Evangelium und Pfarrersansprache waren passend zur Bach-Kantate gestaltet (“Ach Herr, mich armen Sünder”, dazu Lukas 15,1-10). Daher genau genommen Motette und Kantate, versteht sich. Aber wieso die ihre vorzüglichen Musikdarbietungen dann gleich mit Messelementen verbinden müssen, also nein, da fühlt sich der Bauer doch gleich einem Fangversuch ausgesetzt.
Die Ansprache begann mit einem halsbrecherischen Nachweis der Existenz von Sünde. Eindringlich wurde geschildert, wie wir doch alle nachts aufwachen, geplagt und gepeinigt von unseren Verfehlungen. Kennwedoch, hamwedochalleschonmal. Dann wurde das auf Sünde zurückgeführt. Dann wurden die “manchen” eingeführt, die meinen mögen, es gäbe keine Sünde. Aber das kann nicht sein, meint der Thomaskirchenpfarrer langsam und überdeutlich ausgesprochen, denn dann dürften ja Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften nicht leiden. Da sie aber auch leiden (nachts aufwachen, gepeinigt usw. usf.), muss es Sünde geben. Spontan vollzieht sich an mir der Blödsinnhörreflex (Schnauben, Stirnrunzeln, sich umdrehen und in Kopfschütteln Gleichgesinnte suchen), der aber im Leeren verpufft.
Ich hatte das ja schon ganz vergessen: In der Kirche sitzt man und blickt geradeaus, man applaudiert nicht und spricht nicht und sucht keine menschlich sich verhaltende Gemeinschaft. Gemeinschaft ist da ja vor Gott. Sehr merkwürdig, was sowas aus Menschen macht, wenn sie nicht gemeinsam klatschen dürfen, nicht gemeinsam kopfschütteln, nur gemeinsam schweigen.
Während des Gesanges fällt mir wieder ein, weshalb ich mit Motetten & Kantaten im Grunde so wenig anfangen kann: weil die barocken Melodien so schlenkern und sich die Vokale über ihre Schlenker zerdehnen. Diese Inkongruenz von Sprach- und Musikrhythmus, nein, die passt so gar nicht zum Sprachrhythmus des schönen Wortes “Motette”.
Ich verinnerlichte also, still geradeaus blickend, das T-Shirt des vor mir Sitzenden (dicke grüne und blaue Streifen, unterbrochen von dünnen gelben und weissen) und fand die Nackenfalten eines weisshaarigen Herrn in Pepitasakko in der Reihe davor ganz faszinierend. Sie waren nämlich schräg zueinander und müssten doch von eigenartigen Kopfhaltungshabiti zeugen. Der Mann muss doch Schmerzen haben, wenn sich die Haut in seinem Nacken so faltet. Über den Gang rechts sass lässig ein junger Mann mit überkreuzten Sportlerwadeln (nackt, die Wadeln). Auch das fiel mir auf.
Die Bassstimme sang mehrmals “Weicht, all ihr Übeltäter” (die Sünden meinend). Danach eilten die Besucher nach draussen, bereits zu Beginn der Motette vom Pfarrer dazu aufgefordert, denn unmittelbar im Anschluss an die Kantate wären noch eine Trauung und eine Taufe vorgesehen.
Auf der Seite “Chorinformationen” des Programmfaltblattes wurde übrigens bekanntgegeben, dass sich zwar die Thomaner Junioren erfolgreich gegen die Youngsters des Dresdner Kreuzchores geschlagen hätten (4:2), aber das ältere Thomaner-Team gegen die entsprechende Dresdner Mannschaft 0:5 verloren hätte.
höre ich mal eine predigt, oder, besonders ergiebig, morgens im radio das wort zum tag, dann freue ich mich immer schon auf die heilige kurve, den jähen übergang von weltlicher einleitung "gestern morgen sah ich auf der straße" oder "wir alle haben doch schon einmal" zu expilcit content....
an weblogger gerichtete predigten fehlen noch (aber wem?). so typische weblogschuldgefühlsituationen gehörten da ausgemacht und dann biblisch verbrämt.
katatonik (Jun 27, 10:09 am) #
ich glaube
chormusik ist nur etwas für kopfstarke christenmenschen. mir zuckt spätestens beim gloria die uzi und ich möchte sofort metallica haben oder gleich eine bombe rein werfen.
etwas grundverständnis für zurückgeblkiebene fundi-miderheiten darf schon sein, aber dann bitte ohne musik - die gehört meinem arsch und wenn der nichts damit anfangen kann ist es folter. wir erinnern und an herrn noriega und seine unmenschliche beschallung mit springsteens born in the usa.
rausgehen? bei heilig-geistlichen konzerten fehlanzeige - das wird nur mit hellgrünem kopf kurz vor dem übergeben geduldet.
mich erstaunt außerdem immer das übel niedrige musikalische niveau der sogenannten klassiker. dilettanten, stümper, einsatzverpasser.
LaTaiga (Jun 27, 01:27 pm) #
Für mich ist Musik auch nur dann gut, wenn mindestens ein Computer mitspielt. Ich sehe schon: Die abendländische Kultur geht den, haha, Bach runter.
gHack (Jun 27, 01:54 pm) #
wennj musik nicht funktioniert, liegt es nicht an der technik: es liegt an der falschen attitude. wer etwas spannendes zu erzählen hat, kann mit einem chello moderner sein als mit einer 808.
LaTaiga (Jun 27, 02:09 pm) #
Fr. K., hatten wir Sie nicht vor der Predigt gewarnt, aber es ist eben ein Tauschgeschäft, schöne Musik gegen Indoktrination.?!
Hehe. Das kann ich mir auch gut im Agnostiker-Merian vorstellen: "Musik ausgezeichnet, vor Predigten wird gewarnt."
gHack (Jun 27, 04:21 pm) #
ach, Sie sind schon wieder zu Hause, Hr. Seewolf? Hoffentlich hat es Sie nicht gestört, dass ich in Ihrer Abwesenheit Ihr Wohnzimmer in die Luft gesprengt habe(oder war das jemand anderes Wohnzimmer? Na, egal).
[Und: Klar, Sie hatten mich gewarnt, aber ich wollte ja nicht hören. Tsss.]
Dem LaTaigaschen Chorbashing mag ich mich dann doch nicht anschließen. Es gibt da schon sehr große Erhabenheitsmomente - diese Kirchenraumakustik, die ausgeklügelte Harmonik. Das mit den auseinanderdriftenden Rhythmen (oder besser: Taktungen) stört mich, aber die Stimmführungen - so wie bei Bachscher Klaviermusik, wenn die Stimmen auseinanderdrängen, man merkt es gar nicht, und am Ende wieder zusammenkommen, und dann merkt man erst, dass.
katatonik (Jun 27, 05:08 pm) #
völlich offtopic: ham Sie unser USB-Kabel von der Kamera gesehn, was vleicht neben dem Monitor lag, wo Ihr 2. Gedächtnis hungte?
für mich wäre das mindeste, was eine bachinterpretation leisten müsste, mit dem ganzen bachistderliebegottweilersosuperkomponiert-gewäsch aufzuräumen. das passiert nur nie. eine interpretation sollte genau diese stellen sabotieren und gegen die wand laufen lassen, die auch nur einen ansatz an erhabenheit aufkommen lassen. solche takte muss man gleich aus der partitur streichen!
bach heute ist mythos. erhabenheit, überheblichkeit, allmächt, zeitlosigkeit, blablabla. pure glaubenssätze, die dann anschließend noch mathematisch begründet werden. nur: ich spüre nichts. und es hat nichts mit meiner realität zu tun. weg damit! bitte. schnell.
LaTaiga (Jun 27, 11:01 pm) #
dann war da noch der kantor, der auf seine unfähigen chormitglieder böse war.
er komponierte eine bach-style-kantate, die begann mit den worten "wir können nichts ausrichten wider gott den herrn".
als er dann bei der uraufführung den einsatz gab, versicherten erst die sopranistinnen der versammelten gemeinde: "wir können nichts, wir können nichts".
dann die altistinnen desgleichen. dann der reihe nach tenöre, bässe: "wir können nichts, wir können nichts".
und zuletzt der gesamte chor, fortissimo: "wir können nichts, wir können nichts"!
mein gott, taiga, Sie können aber auch sehr toll einen auf rumpelstilzchen machen, wenns um musik geht.
katatonik (Jun 30, 08:08 pm) #
bin wahrscheinlich nur geschädigt mit meiner kichenmusikaffinen schwester und explodiere deswegen jedes mal.
LaTaiga (Jul 4, 06:23 pm) #