Klassenkleinlichkeiten
Ich fahre gern 1. Klasse, Bahn. Ich habe die Hoffnung, dass es in der 1. Klasse ruhig ist, dass es da ist wie in einer Bibliothek, in einer idealen Bibliothek. Man spricht mit gedämpfter Stimme, man bewegt sich sorgsam und bedacht darauf, aus Rücksichtnahme auf andere so wenig Lärm wie möglich zu machen.
Anders als in der Bibliothek wird man in der 1. Klasse, Bahn, umsorgt. Man erhält Tageszeitungen angeboten und darf sich aus dem Speisewagen etwas an den Platz bringen lassen. Dieses letztgenannte Service hebt ein Folder extra hervor: Platzservice nur in der 1. Klasse. Das hat etwas Kleinliches.
Bibliotheken haben auch etwas Kleinliches, wenn etwa unvorhergesehener Lärm – Bücherschlagen, plötzliches Sirren nicht deaktivierter Mobiltelefone – mit strafenden Blicken geahndet wird. Ahndungskleinlichkeit.
Ich gebe zu, in der Bibliothek und auch in der 1. Klasse bin ich ahndungskleinlich: Wenn die junge Frau schräg gegenüber laut telefoniert und dabei laut die Tageszeitung umblättert, die noch dazu eine schlechte Tageszeitung ist, dann senke ich den Kopf, grabe meinen linken Mundwinkel in Genervtheitsposition und blicke sie über imaginäre Brillenränder so lange an, bis sie sich ertappt fühlt. Das funktioniert aber nicht, da sie sich nie ertappt fühlt, denn tatsächlich ist die 1. Klasse, Bahn, keineswegs eine Bibliothek, und niemand denkt auch nur an bibliotheksgemäße Ruhegebote.
Ich fahre, das ist mittlerweile Gewohnheit, da heuer zum 2. Mal praktiziert, am 25.12. in der 1. Klasse in die eine Richtung und ein paar Tage später wieder zurück. Die Hinfahrt ist still und leer. Letztes Jahr war ich allein in einem Abteil. Nur zwei andere Personen waren im Waggon, die ganze, vierstündige Fahrt über. Dieses Jahr war ich fast allein in einem ICE-Großraumwagen. Es war fast wie in einer Bibliothek, in der sonst niemand las. Auch im Bordrestaurant war ich fast allein. Es gab dort keine Hintergrundmusik. Man sah den auf Wärme getrimmten Innenraum, der durch bläuliches Winterzwielicht sauste. Ich dachte an Shining und Lynch. Man hörte nur das Sausen des Zuges, ein dumpfes, stetes Geräusch, in dem man saß. Ein Rundumgeräusch, das immer da war, im ganzen Zug, wohin man auch ging, wie ein Tinnitus, der sich in der Tonhöhe geirrt hat.
Die Rückfahrt ist immer etwas voller und lauter. Ich hatte diesmal einen Platz an einem Tisch. Mir gegenüber saß zuerst ein junger Mann mit sehr gerader Stirnhaarkante, der mir sympathisch wurde, weil er Spex las – in der 1. Klasse! – , und unsympathisch, weil er eine häßliche Uhr trug, auf die er oft blickte. Er stieg aber bald aus.
Ein anderer junger Mann mit Wuselfrisur, Stoppelbart und Tramperrucksack setzte sich eine Reihe dahinter hin. Er packte geräuschvoll etwas aus Alufolie, was stark nach Fleisch roch. Ich fand das lustig, fand ihn lustig, rechnete damit, dass er, weil er räudig wirkte, nur ein in die 1. Klasse Verirrter war und vom Schaffner mit höflicher Bestimmtheit darauf aufmerksam gemacht werden würde, aber das war nur meine eigene persönliche Saubermannkleinlichkeit, die – das erstaunte mich selbst – die Ahndungskleinlichkeit zu überstimmen vermochte.
Der Räudige, im Besitz der passenden Fahrkarte, blieb, frug den Schaffner angesichts des Sitzbildschirms lautstark “geht do a Füm?” und ließ sich, als der Schaffner bedauernd verneinte – es gäbe nur zwei Kanäle, die allerdings nur Bahnwerbung zeigen würden, die ganze Strecke über – eine Kronen Zeitung geben.
Warum konnte ich den Knaben lustig finden, während ich gleichzeitig die junge Frau schräg gegenüber, die mit dem Telefonierwahn und der Raschelblätterei, mit Blicken ahnden wollte? Wo sie doch immerhin eine der Kronen Zeitung etwas überlegene Tageszeitung verraschelte?
Knapp vor dem Endbahnhof steht dann noch der Pferdeschwanzkellner aus dem Bordrestaurant mit einer Viertelflasche österreichischen Veltliners da, vor der dicken Dame, die den deutschen Weißburgunder nicht ums Verrecken trinken konnte, denn der hätte so einen komischen Nachgeschmack, und wieso gäbe es denn keine Österreicher?
Nun aber lehnt sie das Geschenk – die Veltlinerentschuldigung dafür, dass ihr der andere Wein nicht geschmeckt hat – ab, nein, danke, wirklich nicht, sie hätte genug guten österreichischen Wein zu Hause.