Antizyklischer Kinogang: "Home" (Ursula Meier, 2008)
Im nahegelegenen (und das ist bei diesen Temperaturen ein wichtiges Kriterium) Bellaria Kino läuft derzeit “Home”, ein bereits etwas älterer Film von Ursula Meier.
“Home” zeigt eine Familie, die in einem Haus mitten in ziemlich flacher und karger Landschaft direkt an einem nie in Betrieb gegangenen (sagt man so?) Autobahnteilstück lebt. Nun geht wider Erwarten die Autobahn doch in Betrieb, und die Familie versucht sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Das hat Witz, Tragik, Groteske, Depression. Isabelle Huppert spielt die Mutter, übrigens. Der Film ist sehenswert, aber Achtung – beim Verlassen des Kinos ist man sehr, sehr autosensibel.
Ursula Meier spricht in einem ausführlichen Interview auch über die Schwierigkeiten, einen Drehort zu finden:
“Wir haben tatsächlich ganz Europa abgegrast, wir waren selbst in Kanada, weil das Filmprojekt dort auf offene Ohren stiess, aber ein geeigneter Drehort war nicht auszumachen. Neu gebaute Autobahnstücke werden meist sehr schnell für den Verkehr freigegeben, sobald die Baufahrzeuge verschwunden sind – dazwischen liegt keine Zeit für Dreharbeiten. Ausserdem standen überall Autobahnbrücken, und die wollte ich auf keinen Fall im Bild, denn es geht im Film ja darum, dass die Familie durch den Verkehr von der Umwelt abgeschnitten wird und erfinderisch sein muss, wenn sie die Strasse überqueren will. Also haben wir uns stattdessen die Lande- und Startpisten von Flughäfen angeschaut. Aber auch da hatten wir ein Problem: Die waren alle zu kurz, denn die im Film vorbeirasenden Fahrzeuge mussten ja auf 120 km/h beschleunigen, bevor sie ins Bild kamen, und unmittelbar danach wieder abbremsen – zu langsam fahrende Autos wären im Film aufgefallen – und sowas ist auf so kurzen Strecken einfach zu gefährlich. Ausserdem stimmte im Umfeld der Flughäfen auch die Landschaft nicht, diese kahlen Grasböden waren mir zu hässlich.
Fündig geworden sind wir schliesslich im hintersten Bulgarien, zwischen Sofia und Istanbul. Dort stiessen wir auf eine völlig verlorene Landstrasse, die über zwei Kilometer hinweg verbreitert worden war, damit dort Flugzeuge zur Bewässerung der umliegenden Felder starten und landen konnten. Diese Einrichtung wurde aber nicht mehr gebraucht, und das Gelände war verlassen – alle drei Stunden kam vielleicht ein Trabant oder ein Pferd vorbei, und die konnte man problemlos umleiten. Auf diesem Gelände haben wir dann das Haus gebaut, die ganzen zwei Kilometer Strasse neu geteert und mit Sicherheitslinien bemalt, und diese Strecke wurde dann für gewisse Szenen von bis zu 300 Autos mit Statisten befahren. Es war also wie ein Riesenstudio unter freiem Himmel, wir hatten unser Haus, unsere Strasse unsere Fahrzeuge. Wenn ich “Moteur!” rief (was auf französisch soviel heisst wie: “Action!”), dann wurden tatsächlich die Motoren gestartet, und wir erlebten bis zu einem gewissen Grad auch das, was die Familie im Film durchmacht.”