Durchzugsdenken
Freitag Vorabend, am Heimweg mit dem Rad bei einem Gehsteiggastgarten in einer Durchzugsgasse stehenbleiben, ein ungezwungenes Getränk, dazu noch ein komplexes Unterargument durchdenken aus dem im Werden begriffenen Vortrag, der natürlich eigentlich schon im Sein begriffen sein sollte. Durchzugsdenken. Paar Randkorrekturen und marginale Gedanken formulieren, parallel dazu Rumschauen, interessanterweise kommen mir beim parallelen Rumschauen oft jene Gedanken, die sich nachträglich als am tragfähigsten erweisen, mehr als beim konzentrierten Sitzen vor dem abgeschirmten Schreibtisch. Man muss seine produktiven Arbeitsweisen kultivieren, egal, wie sie sind, lernte ich vor Jahren bei einem Coaching, also kultiviere ich das periphere Denken, in dem Fall vor rezenter Pong-Architektur in einem Lokal, das sich passend zwischenraum- und zwischenzeitmäßig anfühlt. In Kaffeehäusern geht sowas nicht, die sind zu gemütlich, da kann ich gleich am Schreibtisch bleiben.
An den Nebentischen treffen einander Leute, die miteinander noch wohin gehen wollen, die trinken wollen. Es scheint da nicht mehr die Sprachgewohnheit zu geben „gemma ins X“ oder „gemma ins Y“, sondern einfach „gemma trinken“. Das hat etwas Unverblümtes, Ungeniertes, aber auch Brutales. Das Lokal, so italienisch angehaucht, Aperitivos, Antipasti, aber auch gute Biere, der eine Typ unter den Gemmatrinkingern, er bestellt ein Augustiner. Neben mir ein abgerocktes Blumenkistl, unbepflanzt, gleich daneben ein rausgeputztes mit Baumarkt-Kräutern, uneinheitliches Aufmascherln, eh gut. Das Lokal ist entspannt, aber auch nicht, denn die Kellnerin hat wohl den Auftrag, bei Füllstand des Getränks von unter einer Hälfte immer nachzufragen, ob man noch einen Wunsch hätte, okay, es ist also immer noch Kapitalismus und Inflationsdruck, im Radio war in der Früh die Rede von den Millionen von Menschen im Land, die sich Waschmaschinenreparatur oder Heizen nicht mehr leisten könnten, die nur jeden zweiten Tag eine warme Mahlzeit. Dann Übergang zu Technischem, was ist die Lösung, Absenkung des einen Steuersatzes, Mietpreisbremse (politisch schon vergeigt), Preiskontrolle, Aufwertung von Kontrollbehörden, die Not in Maßnahmen verbergen, die nie greifen, weil das die Diskurslogik der Maßnahme ist. Die jüngste, konventionell hübscheste Frau unter den Gemmatrinkingers rechnet ihrem Hapschi stolz vor, um wie wenig sie jetzt beim Neubaugassenflohmarkt Kleidung eingekauft hat. Ein Typ fragt im Vorbeigehen in sein Handy “Heroin, Halbwertszeit im Körper”, eher so als Nebenprodukt des Gesprächs mit der Frau neben ihm, wie man halt so ins Handy fragt “Berlin, Einwohnerzahl”, wenn das Gespräch drauf kommt und es grad keiner weiß.
An dem anderen Nebentisch zwei Frauen, eine davon etwas älter, früher hätte man gesagt, überwuzelt, aber vielleicht sagt man das eh noch, jedenfalls in schwarzem Schlauchkleid. Wenn sie aufsteht, muss sie immer am Schlauchkleid zerren, also es nach unten ziehen über die Schenkel, denn diese verdammten Dinger rutschen ja immer nach oben, wenn man drunter Strumpfhosen. Keine Ahnung, warum man heute sowas immer noch trägt, praktisch ist es nicht, und kleidsam ehrlich gesagt auch nicht, halt einfach Rockerporno. Die Überwuzelte hat eine schwere, heisere Raucherstimme, sie unterhält sich mit ihrer Freundin, dann kommt noch ein Typ dazu, für den sie einen Sessel besorgt, zwischen jeder sesselbezogenen Bewegung eine Schlauchkleidstreichbewegung, sie sind alle sehr freundlich und zuvorkommend zueinander. Sie fällt auf zwischen den Gemmatrinkingers, die sicher bedeutend mehr Zeit in Fitnesscentern zugebracht haben, davor ihre verkaterten Organismen mit Protein-Shakes oder Ärgerem zurechtdopend, aber so richtig rausfallen tut sie nicht, also so, wie es manchmal vorkommt in Umgebungen, wo verknitterte Existenzen von glattgebügelten umgeben sind und dann die Glattgebügelten so eine Art Peinlichkeitsaura für die Verknitterten erzeugen, auch wenn das niemand beabsichtigt, es ist halt Struktur.
Ich nehme einen Negroni Sbagliato, weil das mit dem Sbagliato irgendwo in meinem Hinterkopf ist, warum auch nicht, alle anderen Frauen trinken auch rote Mixgetränke, nur die eine mit dem klein gemusterten Oberteil, die mit einem dezidiert nicht auf Alpha gestriegelten jüngeren Mann dasitzt und mit ihm wissenschaftlich fachsimpelt, auf Englisch, die trinkt ein Achterl Weiß, er ein Achterl Rot. Ich entferne polemischere Stellen aus dem Vortragstext und versuche, das Argument in seinen Konturen zu schärfen.
Your music makes me grins.