Eskalationszurücknahme
Donaufestival, 6.5.2023: abends Phew, Klara Lewis & Nik Colk Void & Pedro Maia, Gorgonn, in der Reihenfolge. Programm kurzfristig in der Abfolge geändert, also denke ich, gut, ich nehme den Zug eine Stunde später, ich hab eh noch was zu tun. 15 Minuten Umsteigezeit in St. Pölten, das wäre komfortabel gewesen, wäre der Zug nicht von der schnellen Tunnelstrecke auf die langsamere Wienerwaldstrecke umgeleitet worden, und hätte der Zug nicht bereits in Wien Meidling – dem ersten Halt nach dem Ursprungsbahnhof Wien Hauptbahnhof – fünf Minuten Verspätung gehabt. So kam er exakt zwei Minuten nach der Abfahrt des Anschlusszugs in St. Pölten an, danke. Und warum die ÖBB in solchen Fällen (es werden ja nicht so wenige Leute von Wien nach Krems fahren) nicht den Anschlusszug warten lässt, beats me. Na gut, vielleicht dachten sie, der nächste Zug St.-Pölten-Krems fährt eh in einer Stunde, als Niederöstereicher*in kann man es schon aushalten, gut 50 Minuten am Bahnhof der Landeshauptstadt wartend zuzubringen. Aber das denkt man sich als Zugreisende mit Konzertkarte halt dann doch eher weniger. Ich wartete dann nicht ab, sondern investierte den Preis eines verdammt luxuriösen Restaurantschnitzels in ein Taxi nach Krems, knapp 35 Kilometer. Phew ist das auf jeden Fall wert, die sieht man nur sehr, sehr selten. Wert war’s übrigens auch das spektakuläre Gewitter, durch das der junge Taxifahrer mich sehr souverän kutschierte. Es war geografisch sehr begrenzt; würde ich in der Umgebung von Dörfl wohnen, würde ich mich dann doch fragen, ob mich Gott nun für die Wahl von Udo Landbauer strafen wolle.
Das Donaufestival findet in Hallen in Bahnhofsnähe statt. Die Halle 2, in der Phew (Hitomi Moritani) auftritt, ist in eine Nachbarhalle hinein weit geöffnet, in der eine Bar und Infostände und Sitzgelegenheiten sind, das ist akustisch eher suboptimal; Gesprächspegel. Also tiefer in die Halle 2 hinein, rein in die Menschenmenge, was mich schon einmal mehr gestört hat. Sehr gut gefüllt, die Halle. Konzerte von Elektroniker*innen – und das sind an dem Abend alle drei, Laptops, Regler, keine Instrumente – beginnen gern so unspektakulär. Irgendwann stehen halt ein bis drei Personen vor ihren Geräten, und dann geht’s los. Bei Nik Colk Void & Klara Lewis gab es Visuals von Pedro Maia, sonst nur Lichtshow, alles eher fahl und neblig gehalten, gelegentlich Lichtstreifen, manchmal ein Aufblitzen.
Phew: schlanke Frau, Kopf unter dichter Pagenkopffrisur über den Laptop gebeugt, ihre Brille sehe ich erst am Ende, sie blickt so selten auf und wirkt so konzentriert. Am Ende eine Verbeugung, und weg ist sie. Ich kenne Phew vor allem von ihrer Zusammenarbeit mit Anton Fier, die grandiosen Alben Dreamspeed & Blind Light (1992, 1994), und vor allem als Vokalistin, Stimm- und Sprachkünstlerin. Aber es gibt verdammt viel mehr von ihr, viel einzuhören. Sie macht jetzt ihre Musik selbst, elektronisch, das ist verhalten melodiös und geht von gelegentlich schrill über wabernd dicht bis zu perlend verspielt. Dazu charakteristische Textpassagen, japanisch, in Sprechgesang, mitunter Schreigesang, alles gelegentlich in Hauchräume zurückgenommen. Repetitive Phrasen, Anmutungen von Narrativen. Ich verstehe bruchstückhaft (was mit Kindern, was mit Liebe), mein Umgangsjapanisch ist sehr eingerostet, mein Sinn für Literarisches im Japanischen zu schlecht ausgeprägt wg. Konzentration auf Wissenschaftstexte. Sie würde manchmal mit vorbereiteten Texten arbeiten, manchmal improvisieren, sagt Phew in einem Interview, im Kontext eines sehr ausführlichen und lesenswerten Artikels über sie (Jennifer Lucy Allan), mit Werküberblick und Hörbeispielen. Eigenwillig, das liest man oft über sie und ihre Musik, aber das heisst es über Frauen, die ungerührt ihren eigenen Zugang zur Welt pflegen, ja schnell, und japanisch ist halt noch einmal eine Sonderklasse von Prädikat „eigenwillig“, und das sagt ja nur, dass man sonst wenig zu sagen in der Lage ist; es ist ein Hilflosigkeitsattribut.
Das zweite Konzert des Abends, Nik Colk Void & Klara Lewis im angrenzenden Stadtsaal. Aus irgendeinem Grund habe ich ein Ding übrig für Nik Colk Void und fühle mich bemüßigt, ihr immer noch eine Chance zu geben, obwohl mir von ihrem bisher gehörten Solozeug nichts so recht zusagen will (aber „Transverse“ von Carter/Tutti/Void, 2012, oha! Wie alt war sie da überhaupt, sie sieht ja auch heute, elf Jahre später, sehr nach junger Frau aus). Da ist pfundige Wucht mit Lautstärke, isjagut, aber mir ist das alles zu wenig dicht, zu unhandwerklich, zu unsorgfältig, zu unrund im Ablauf, ich weiß auch nicht. Unlängst jemandem meine Theorie dargelegt, dass man in der elektronischen Musik die Musiker*innen von den Maschinist(inn)en ohne Instrumentenschulung unterscheiden könne, und ich letztere einfach weniger interessant fände, das wurde von meinem Gegenüber aber als zu simplistisch verworfen, wahrscheinlich zu recht. Jedenfalls. Ich sitze am Rand auf einem Podium, das dort praktischerweise herumsteht, ruhe meine Füße aus, die ich bei Gorgonn wahrscheinlich noch brauchen werde, und gehe vor dem Ende des Konzerts wieder raus.
Dann also wieder zurück in die Halle 2, zu Gorgonn, einem japanischen Laptopmusiker, der sich dem tiefen Dröhnen in konsistentem Dub-inspiriertem Rhythmus verschrieben hat. Holger Schulze hatte mich auf sein Album Six Paths hingewiesen, das sich mit den sechs buddhistischen Wiedergeburtssphären bzw. Existenzweisen befasst, dem Sound nach vor allem mit den Höllen (die durch und durch angenehme und liebliche Wiedergeburt als Götterwesen passt eher nicht zu dem Sound, das muss man sagen). Der Begleittext auf der verlinkten Bandcamp-Seite ist übrigens sehr liebevoll geschrieben.
Live dröhnt und hämmert das noch schöner rein, die Basslast geht körperlich durch und durch und regt das Publikum zu verhatschten Tanzbewegungen an, verhatscht, weil halt doch etwas zu langsam zum richtigen Abtanzen (obwohl sich einige junge Menschen redlich bemühen; das Publikum an dem Abend überhaupt erfreulich jung). Kurz denke ich an das erste und einzige Melvins-Konzert zurück, bei dem ich war (auch beim Donaufestival), mit dem freundlichsten Moshpit von überhaupt. Verhatschtes Tanzen bei Gorgonn, auch: weil der Kerl eine Gabe hat, an den Punkten, wo man den Rhythmus gerne eskalieren spüren würde, just abzubremsen und sich zurückzunehmen. Das macht Phew übrigens auch gut und gerne in ihren rhythmuslastigeren Nummern, und ich mag das sehr.
Es gibt dann einen sehr gut organisierten Shuttlebus zurück nach Wien (nimm das, ÖBB!), und dann war da noch der bulgarische Taxifahrer, der einen Podcast oder sowas über internationale Flugsicherheit hörte, weil er Langstrecken-Paragliding machen will und sich informieren muss. Als ich einstieg, ging’s gerade um Reichsfluggesetze in der Nazizeit, und wie viel von heute gängigen Bestimmungen in der Luftfahrt aus dieser Zeit gekommen wären, der Flugplatzzwang zum Beispiel. Nein, das würde mich nicht stören, ich fände das sehr interessant, sage ich auf seine höfliche Nachfrage, und dann erzählt er halt. Er erzählt auch von seiner Militärvergangenheit in Bulgarien, und Militärflugzeugpiloten würden übrigens oft impotent, was im zivilen Flug nicht so wäre, man wisse nicht, warum, aber er wollte Familie, also weg. Er war übrigens der erste Taxifahrer, der mir am Ende der Fahrt sagte, er würde mit der Abfahrt warten, bis ich sicher im Haus wäre. Vielleicht machen das andere auch; es ist mir noch nie aufgefallen.