Aufschüttungen und was mit Wucht
Am Ende der fast zweiwöchigen Reise verbringe ich eine Nacht und einen halben Tag im Niemandsland in der Nähe des Flughafens von Toronto. Der Bezirk heisst Etobicoke und war früher eine eigene Stadt. Der Name stammt vom Mississauga-Wort Wadoopikang, das bedeutet, sagt Wikipedia, “Ort, wo die Erlen wachsen”. Etobicoke ist ein Produkt von Nachweltkriegsplanung, zoniert in Industrie-, Gewerbe- und Wohngebiete, geplant in einer Zeit vermehrter Automobileignerschaft; großzügige, mehrspurige Asphaltbänder. In der mittelbaren Nähe des Flughafens haben sich die großen Hotelketten angesiedelt, mit Shuttlebussen mit dem Flughafen verbunden.
Ich bin hier, weil mich der Flugplan dazu gebracht hat, noch eine Nacht in Toronto zu bleiben, nach dem Rückflug aus Madison-Wisconsin, wo ich drei Tage einen Workshop besuchte, und vor dem weiteren Rückflug nach Wien. Der Flug aus Madison über Chicago hatte sich einige Stunden verspätet. Hat man so wie ich kein Mobiltelefon mit leistbarem Tarif in Nordamerika, so soll man in der Ankunftshalle nach einem eigens für die Herbeirufung von Hotelshuttlebussen geschaffenen Gratistelefon suchen. Ich finde es tatsächlich: ein staubiges Festnetztelefon in dieser blitzblanken Halle, auf einem Tisch neben dem Informationsschalter. Es gelingt mir, vom Rezeptionisten, der von seinem Akzent her genauso gut in einem Call Center in Mumbai sitzen könnte, noch ein Shuttle zu erbitten, zwei Minuten vor 23:55, dem verlautbarten Ende des Shuttledienstes. Es hätte mich nicht gewundert, hätte er mir drei Rätselfragen gestellt und das Shuttle nur bei deren zufriedenstellender Beantwortung losgeschickt. So ein Tag war das. Dazu passt dann auch: Die Shuttlefahrerin, die ebenfalls aus Mumbai stammen könnte, beruhigt die etwas ungeduldig auf andere Shuttles Wartenden mit dem Satz “Yours will come”, und wir lachen beide, weil sich das so gravitätisch prophetisch anhört. Yours will come, do not worry, my friends. Sie stellt mir während der Fahrt Fragen persönlicher Art, wie jemand wie ich sie in Indien oder Pakistan oft gestellt bekommt. Are you married? Eigentlich möchte sie das aber gar nicht wissen. Sie möchte mir vielmehr erzählen, wie sie fast geheiratet hat, aber knapp davor hatte sie der Typ sitzen lassen, wollte dann aber, nachdem er eine andere geheiratet hatte, zu ihr zurückkehren. Sie wollte aber nicht mehr. Wir kommen nicht mehr dazu darüber zu sprechen, was sie jetzt will.
Den halben Tag nach der Nacht im Niemandslandhotel verbringe ich dann gehend. Ein Fußweg trennt die breite Straße von einem Golfplatz, an den im Straßenverlauf etwas weiter der weitläufige Centennial Park anschließt. Auf der anderen Straßenseite Gewerbegebäude, ein Einkaufszentrum, spiegelnde Fassaden. Am Wegesrand ein von der Sonne ausgetrockneter Kadaver eines Waschbären. Ich spreche diesen Text in mein Telefon, das Brocken davon verschriftlicht. Niemand hört mich, und wenn doch, verstehen sie mich wahrscheinlich nicht, sondern wundern sich nur über diese betont langsam in ihr Telefon sprechende Irre. Ich versuche mich beim Gehen an Momente der Reise zu erinnern. Das ist etwas Wühlarbeit, denn die letzten drei Tage – Workshop, Hin- und Rückflug über Chicago O’Hare, Angstgegner aller Flugreisenden – waren kleinteilig, konzentrationsfordernd, kontaktreich, mit Cocktails zwischendrin, ermüdend.
Workshop: zu Ehren eines älteren Kollegen. Teilnehmende ab so 50 aufwärts, plus ein paar lokale Doktorand*innen. Es ging um Wahrheit und Erkenntnis in einer “empty world”. Fragen, die indische und tibetische Philosophen im Buddhismus jahrhundertelang beschäftigt haben (und, in tibetischen Traditionen, immer noch beschäftigen). Wie unterscheidet man Wahrheit von Irrtum, Erkenntnis von Illusion, in einer Welt ohne ontologisch-metaphysische Letztbegründung? Fragen, verhandelt in Texten divergierender Orientierungen, mit Begrifflichkeiten und Methoden einer eigenen Art, die unsereine sich erst erschließen muss. Theorien, die nicht einfach mit vergleichbaren Theorien aus der Philosophiegeschichte Europas identifiziert werden können, die sich an Punkten widersetzen, andere Richtungen einschlagen. Die Vorträge nähern sich der Thematik weitgehend mit Mitteln der analytischen Philosophie an, manche gehen näher an Textmaterial im Sanskrit und im klassischen Tibetisch und sind offener gegenüber Aspekten des historischen, religiösen, wissenschaftsgeschichtlichen Kontexts. Dieses Feld hat in den letzten Jahrzehnten verdammt viel Neues gesehen, neue Handschriftensammlungen wurden zugänglich, manche sogar veröffentlicht. Man kann ganze Perioden und Denker jetzt erstmals beleuchten, gleichzeitig wurden aber auch neue Ideen eingeführt, auch vom am Workshop Gefeierten, mit denen man sich die in alten Texten dann doch immer fragmentarisch bleibende Theorien verständlich zu machen sucht. Debatten wurden geführt, Positionen haben sich herauskristallisiert, geschärft. Am Workshop treffen sie mit viel Humor und gegenseitigem Respekt aufeinander. Alles sehr konstruktiv und gut gelaunt. Für meinen Geschmack mitunter etwas zu weit abgelöst von der Evidenz, die in Texten besteht, in Begriffen, in historisch ausgebildeten Argumentstrukturen, die zu erfassen nicht einfach ist und in wichtigen Fällen neu überdacht werden muss (so etwas ist das Thema meines Vortrags).
Es gab viele Reminiszenzen, rührenden Dank, eingehegt durch leichte Ironie. Beziehungsgeflechte. Erinnerungen an vergangene Workshops, Konferenzpanels, Symposien dieser Art, zu verwandten Themen, in Hiroshima, in Bangkok, in Kazimierz Dolny in Polen, in Montreal, in Lausanne. Ich bin mit den Workshopistas punktuell, nicht kontinuierlich, aber doch: mitgealtert, seit ca. Mitte der 1990er Jahre. Da waren auch andere, die nicht mehr leben, da sind andere, die nicht da sind, vor allem die, die noch älter sind und nicht mehr reisen können oder wollen oder beides. Da waren auch Jüngere, die nicht geblieben sind, nicht bleiben wollten, konnten, klar. Und da sind auch die, die an Nachwirkungen von COVID leiden und virtuell teilnehmen. Die Pandemie ist nicht mehr das große Thema. Sie ist ein Faktor geworden, der Anderes, das im Vordergrund steht, beeinflusst, wie auch das Klima Vieles beeinflusst, der Ukrainekrieg, der Verfall der USA (“kann man noch eine Konferenz in Florida oder Texas besuchen?”), all die Prozesse andauernder Krisenhaftigkeit. Leicht rauchige Luft, die Waldbrände in Northern Alberta, weisst eh.
Als ich durch das Niemandsland gehe, reduzieren sich die Erinnerungen an die letzten Tage zunächst. Es bleiben, anfänglich zumindest, konstatierende und erfassende Sätze, die sich so anfühlen, wie die gebauten Blöcke mit den Glasfassaden in der Umgebung aussehen. Ein ansatzweise ausuferndes Abendessen in einer riesigen, mondänen, lauten Sushi-Bar. Große Portionen von Sushi-Rolls amerikanischer Art, mit Avocados, panierten Garnelen, Mayonnaiselinien obendrauf. Sake, launig benannte Cocktails (“Absent Thoughts”, “Folly to Resist”). Wahnsinnsgeschichten von japanischen Telco-Magnaten, die neue Philosophie-Institute gründen, “because we got it all wrong”. Die Nächte werden nicht lang, alle älter, man hält sich zurück und ist vernünftig, geht lieber spazieren als noch eine Runde zu schmeißen. Noch vor Mitternacht finde ich mich in meinem Hotelzimmer wieder und bin nicht unglücklich darüber. Das war damals anders. Damals haben aber auch noch die gelebt, die, vielleicht auch ein bisserl wegen solcher Exzesse, heute nicht mehr leben.
Der letzte Abend in Haus und Garten des Organisators. Gecatertes Thai-Essen. Der Gastgeber mixt uns Cocktails; es gibt eine Liste, wie so ein professionelles Barmenü. Aus Lautsprechern Dinnermusik. Frank Sinatra, ostentativ weiße 1960er-Jahre. Seriously? Irgendwann mutmaßen wir, es müsse sich dabei um eine Spotify-Playlist handeln, keine selbst kuratierte, eine “vom Band”. Wir, das ist dann eine kleine Vierergruppe im Wohnzimmer, die einander Bücher, Musik, Filme und Serien empfehlen; drei von uns machen sich eifrig Notizen in ihre Handys. Jemals David Byrne gelesen, “How Music Works”? Die Geschichte Tasmaniens, auch ein Wahnsinn, Richard Flanagan, musst lesen, “The Sound of One Hand Clapping”. Einer dann so, “Oh, I’m such an introvert”, und da staunen wir anderen, denn so hatten wir ihn nie wahrgenommen. Dann der andere, eigentlich wäre er ja der “introvert”, und ich widerspreche, und erst jetzt im Niemandsland frage ich mich, ob uns die Pandemieerfahrung alle zu “introverts” gemacht hat, für die es weniger selbstverständlich geworden ist mit Menschen zu sprechen, mit denen man nicht zusammenlebt.
Im Niemandsland finde ich zunächst keinen Weg von der Straße in den Park hinein. Einfach querfeldein gehen in Unkenntnis eventuell vorhandener Zäune oder Mauern – lieber nicht. Der Park ist zoniert in Sportareale, Picknickplätze, Biotope. Ich gehe also die Straße wieder zurück bis zu einer erinnerten Abzweigung, noch einmal vorbei am Waschbärkadaver. Auf der anderen Straßenseite eine Reihe von Gebäuden mit historischen Schnörkseln um die Fenster, eine Klinik fürs Augenlasern, eine Zahnklinik. In Little Jamaica (Eglington) in Toronto sah ich auch so verschnörkselte Bauten, Wohngebäude, geplant hingeklotzt in eine Umgebung aus davor ungeplant akkumulierten, niedrigen Geschäftsblocks, brick buildings. Eine beachtliche Anhäufung von Männerfriseuren. Von außen uneinsichtige Lokale, Plattenläden, am Rande High-Rise-Wohnblocks neueren Datums für Menschen mit mehr Geld. Hintergrundlektüre dazu — Rollie Pemberton: Saving Little Jamaica (Nov. 2020); beim Friseur war er übrigens auch da. Seit gut einem Jahrzehnt wird dort in Eglington an einer “Light Rail Transit”-Linie gebaut. Bauverzögerungen, Folgewirkungen für Geschäfte, derweil Gentrifizierungsdynamik, Entscheidungen über die Köpfe der Anwohner hinweg; mittlerweile bestimmt auch noch Pandemiefolgen. Auch in Universitätsnähe mehr geschlossene Geschäftslokale als ich mich erinnern kann aus 2017, als ich zu einer Konferenz in Toronto war.
Die Erinnerung hat Gefilde gefunden, in denen sie herumstreifen kann, das ist gut. Über meinen Kopf donnert ein riesiges Flugzeug hinweg; ich erschrecke. Die Straße nach der Abzweigung führt am Parkrand entlang, auf der anderen Straßenseite der Golfplatz, Golfspieler und diese lächerlichen Wägelchen. Der Park ist nicht für Fußgänger gemacht, die ihn aufsuchen. Es gibt plötzlich keinen Fußweg mehr, kein Trottoir. Man kann nur in der Wiese am Straßenrand entlanglaufen, das machen außer mir nur noch ein paar wenige, die Russisch oder Ukrainisch sprechen; ich erkenne den Unterschied beim Hören nicht. Die meisten kommen mit dem Auto an, mit ihren Familien und Hunden. Der Weg in den Park ist eine Straße zu einem Parkplatz. Links eine aufgeschüttete BMX-Anlage, eingezäunt. Kinder, begeistert. “Did you see what I just did, Dad?” Etwas Wildnis zwischendrin, Anflüge von Wäldchen, aus denen das um diese Tageszeit schon etwas ermüdete Geschwätz von Vögeln zu hören ist. Ein Tümpel mit Schilf.
Ich erinnere mich an den Tommy-Thompson-Park, eine aus 6.5 Millionen Kubikmeter Beton, Erde und Sand aufgeschüttete künstliche Halbinsel im Lake Ontario, von der Natur überwachsen, von Vögeln besiedelt, von der Stadtverwaltung irgendwann zu einem Freizeit- und Naturschutzgebiet umgestaltet, weil die Hafenanlagen, für die das Material ursprünglich aufgeschüttet worden war, dann doch nicht gebraucht wurden. Asphaltierte Wege, multi user paths für verschiedene Fortbewegungsformen mit oder ohne nicht-motorisierter Geräteunterstützung. Parallel dazu Pfade durch das Gebüsch näher am Ufer des riesigen Sees, nur für Fußgänger. Lagunen mit liebevoll abgegrenzten Brutgebieten für Wasservögel. Schwäne, Kormorane, Enten, Möwen, Kleinvogelgeschwätz beachtlicher Lautstärke. Ich ging da, nun vor mehr als einer Woche, eine grosse Runde von knapp 15 km bis zum Leuchtturm am ganz anderen Ende des Parks und wieder zurück; pralle Sonne. Euphorieschübe durch Zufallsanblicke von Goldwaldsängern und Goldzeisigen, das Erspähen von Kormoranen, den Vorbeiflug einer Ente (bunte Wood Ducks, oha!). Gegen Ende, schon am Rückweg, zufällig einen Seitenweg in einen Laubwald eingeschlagen, plötzlich eine Riesenkolonie von Kormoranen, die in abgestorbenen Bäumen balzen und Brutvorbereitungen treffen, dabei Laute von sich geben, die klingen wie heisere Löwen, die träge in der Sonne ansetzen zu brüllen. Im Hintergrund schmale Landstreifen, auf denen sich Unmengen weiterer Kormorane und Möwen drängen. Zutritt verboten.
Das Knarzen und Schnarren von Rotschulterstärlingen ist auch hier im Niemandsland der durchdringendste Sound der Gegend. Sie klingen immer wie genervt, aber auch aufmunternd zugleich, die ganze Gegend hat so einen aufmunternden Genervtheits-Sound. Ein Tümpel, keine Wasservögel zu sehen. Um den Tümpel herum vereinzelt Schilder für Stationen von Disc Golf, Disc-Golf-Körbe, aber es spielt niemand. Es ist mittags, es ist sonnig und warm, gelegentlich kühlender Wind. Ich habe gerade in einem afghanischen Restaurant in einem der glänzenden Blöcke gegessen. Es gab dort mehrere afghanische Restaurants, deren Betreiber – junge Männer, Frauen im Service, womöglich deren Mütter – wahrscheinlich nicht ganz freiwillig in dieses Land gekommen sind. Im Tommy-Thompson-Park gibt es keine Infrastruktur gastronomischer Art. Am Landende der Halbinsel ein osteuropäischer Wurststand, ein rotes Wurstzelt, wo auch Wasser verkauft wird. Interessant aussehende Pickles, auf die ich dann doch keine Lust hatte.
Das Niemandsland, der Niemandspark, füllt sich. Männer mit Baseballmützen führen Hunde an der Leine. Zwischendrin ein Warnschild “Attention – Oil Pipeline”, unter Hochspannungsmasten. Der Park zerfurcht und untergraben von Infrastruktur, sicher auch aufgeschüttet aus Restmaterial von irgendwas. Es ist ja die ganze stadtnahe Natur eine einzige Aufschüttung, flüstert mein innerer Thomas Bernhard, eine einzige Durchlöcherung. Ja, ist ja gut, Tommy, aber da ist auch noch etwas anderes: Überlappungen von Nutzungsstrukturen in der Landschaft, auch Verdichtungen derselben, all das verschiebt sich im Lauf der Zeit, dabei tun sich Räume auf, in denen sich etwas einnisten kann. Sowas siehst du halt nie, Tommy, ist nicht deins.
Niagarafälle, Tommy, das wäre ein Beispiel eventuell, ein Extrembeispiel, weil die Wucht des Naturphänomens die Strukturen, die die Natur nutzen, immer wieder durchkreuzt, Anpassungen erfordert. Der Flixbus aus Toronto — schnellste Möglichkeit, ohne Tour öffentlich hierher zu kommen — hält zwischen riesigen Hotelbunkern und Casinos. Man kann von dort nicht zu Fuss den Hang hinab zu den Fällen gehen, sondern muss entweder einen Shuttlebus nehmen oder eine niedliche, extrem kurze, aber kostenpflichtige Standseilbahn. Es gibt keine Fußwege, und das ist völlig absurd, die paar Meter. Bei den Horseshoe Falls (das ist der von der kanadischen Seite aus zugängliche der insgesamt drei Wasserfälle) gibt es eine Reihe von Attraktionen, Lokalen, gift shops; Tourismusinfrastruktur. Ich nehme die “Journey behind the falls”, fahre mit einem Lift hinab durch die Felsen. Unten eine Aussichtsplattform am einen Rand des Wasserfalls, Tunnel führen zu Aussichtslöchern. Konzentrierte Erfahrung der Wucht des Wassers durch ein mannshohes Loch, mit Sicherheitsabstand. Manchmal drängt es Fontänen herein; man trägt gelben Plastikregenponcho, biodegradable. Hier bleiben die Leute nicht lange stehen. Es ist dunkel, bedrohlich, die Wasserwucht nah, sehr nah.
Ich beschließe spontan, auch noch die Bootsfahrt zu den Fällen mitzumachen, was ich eigentlich nicht vorgehabt hatte. Die in rosa Regenponchos (auch biodegradable) uniformierte, zufällig zusammengewürfelte Menschengruppe freut sich mitreißend unbändig. Grollen des Bootsmotors, Vibrationen, das Rauschen des Wassers aus so vielen verschiedenen Richtungen. Die Atmosphäre hat etwas von jauchzendem Hochschaubahnfahren, und ich fahre sehr gern Hochschaubahn und jauchze dabei, nur ist der Wasserfall dann doch ungebändigt und rauscht viel lauter, als man jauchzen kann. Man fährt recht nah an die Horseshoe Falls, der Bootsmotor muss sich ordentlich bemühen, das Boot gegen den starken Wasserdruck auf Stelle zu halten.
Mit den Vögeln hatte ich nicht gerechnet, den vielen Vögeln (ja, auch du, Rotschulterstärling). Im Fluss oberhalb der Horseshoe Falls überall jagende Möwen und Kormorane; ruhende Kanadagänse in den Wiesen am Ufer. Andere Landschaftsnutzung: Energie, auch das zieht sich durch. Ein monumentaler Kraftwerksbau aus 1905, 2006 stillgelegt, 2021 als Touristenattraktion eröffnet; ich bin zu müde dafür. Die Fälle können auf Knopfdruck abgeschaltet werden, der Wasserfluss ist reguliert und auf die Touristenströme abgestimmt. Was nicht fällt, das bringt Energie, jetzt durch Kraftwerksstationen weiter oben am Flusslauf. Die Flussregelung ist auch Gegenstand eines Abkommens zwischen der New York Power Authority und Ontario Power Generation aus dem Jahr 1950, das einen “unbroken curtain of water” sicherstellen soll. Die Geschichte der Fälle dann auch eine der Folgen von Wucht und Kraft: Es war ja die Wasserkraft der Horseshoe Falls, die über lange Zeit hinweg die Felskante gebogen hat. Felsstürze immer wieder, Lob der Ingenieursleistungen, die unternommen werden mussten, die Anlagen an die Wuchtfolgen anzupassen.
Anpassungsleistungen. Mein Vortrag an der Universität von Toronto wurde von der “Global Philosophy Research Interest Group” organisiert; ich sprach über divergierende Ansätze in der Erforschung buddhistischer Philosophie (die der Workshop in Madison ein paar Tage später praktisch vorführen würde), zeichnete programmatische Linien. Es ging dabei um theoretische Positionen und beobachtete Praxis, um die Bestandsaufnahme eines Ökosystems und ein Plädoyer für eine bestimmte Nische darin, die auch meine Nische ist. Kein Mainstream, das weiß ich, auch schwer zu erhalten, da zeitlich anspruchsvoll und mit den Erfordernissen akademischen Betriebes nur an wenigen Orten vereinbar, aber wertvoll, und das muss man den Leuten gelegentlich sehr deutlich sagen. Eine amerikanische Kollegin, die online teilnimmt, weist auf den blinden Fleck meines Vortrags hin: institutionelle Zwänge. Wenn sich diejenigen, die sich philosophisch mit buddhistischem Denken auseinandersetzen, weniger eingehend mit Textquellen befassen, was ich kritisiere, liegt das ja auch daran, wo sie publizieren müssen, um an ihren Unis (in philosophy departments) weiterzukommen, und da gehören Zeitschriften aus dem Feld der Buddhismusforschung, wo man eng an originalsprachigen Texten arbeitet, einfach nicht dazu. Gerade deshalb, meine ich, ist Engagement so wichtig, bei Publikationsorganen, in Besetzungsverfahren, dort, wo man darauf hinarbeiten kann, Standards zu ändern, und das müssen gerade die versuchen, die (wie ich) in abgesicherten Positionen sitzen. Sie hatte andere Dimensionen im Sinn, teilt sie mir später mit, Dekolonisierung, Stichwort Kant als Rassist, und Ausschlussprozesse aus dem Kanon der Philosophie. Ich versuche das aufzunehmen, auch wenn mir das Label “Dekolonisierung” zu inflationär und zu grob ist, analytisch wenig hergibt, historisch zu wenig genau hinschaut, oft auf unproduktive Art moralisierend Verwendung findet; ich komme damit nicht klar, wie sich solche Labels rasch verbreiten, ich möchte mehr Anstrengung sehen, über das nachzudenken, was sie zu bezeichnen vermeinen.
Hier im Niemandsland plötzlich noch mehr Autos. Ich gelange zu einer stark befahrenen Gokartbahn. In den umliegenden Brachen der Freizeitinfrastruktur oft Momente des Zufallsglücks: Das schrille Piepsen am Rande eines Gewerbekomplexes kam von zwei Keilschwanz-Regenpfeifern (Charadrius vociferus, wohl wegen seines schrillen Rufes “killdeer” benannt). Jetzt, als ich neben der Gokartbahn meinem Telefon diesen Text diktiere, fliegt plötzlich ein Blauhäher vor mir von links nach rechts, seltsamerweise der erste dieser Reise; die sind ja nicht eben selten hier. Noch ein Warnschild: “Pressure Petroleum Pipeline”, ich setze meine Schritte unwillkürlich vorsichtiger. Bewegung in der Wiese: wiederum zwei Keilschwanz-Regenpfeifer. Sie vermögen sich rasch trippelnd so zu bewegen, dass die Rückenlinie ihres Körpers vollkommen horizontal ist. Der Regenpfeifer als Pinselstrich.
Euphorisierende Zufallsbegegnungen. Bei meiner Ankunft fand in Toronto die Jahreskonferenz der Native American and Indigenous Studies Association (NAISA) statt; im Hotel traf man bei der Wine Hour am späten Nachmittag auf Kolleg*innen aus diesm Feld. Zufallsbekanntschaft mit Mimi Gellman, einer in Vancouver akademisch lehrenden Künstlerin mit Anishinaabe/Métis-Hintergrund, und ihrer Schwester. Spontane Herzlichkeit, gemeinsame Abendessen in Gegenden Torontos, in die ich sonst nicht gelangt wäre, Einblicke in die Verwerfungen kanadischer Identitätspolitiken, Diskussionen über die Kategorie des “Indigenen”, Lebensgeschichten mit überraschenden Parallelen. Ein paar Tage später treffe ich in der Wine Hour auf Larissa Lai, Schriftstellerin (Asian-Canadian), Abtastungsgespräche, freundlich und zaghaft, leider abgebremst durch ihre unmittelbar bevorstehende Abreise. Pinselstriche.
Danke fürs Sammeln, Aufschreiben, Erzählen, danke für die Multi-Media-Show.
kaltmamsell (May 25, 02:08 pm) #