Kunst, Identitäten, Freiheiten (Art Gallery of Ontario)
Vor der Art Gallery of Ontario (AGO) steht seit 2022 Brian Jungens Skulptur “Couch Monster: Sadzěʔ yaaghęhch’ill”. Der Untertitel ist Dane-zaa, eine athabaskische Sprache; die Dane-zaa gehören zu den “First Nations” Kanadas. Er bedeutet der Museums-Website zufolge “my heart is ripping”.
“A poetic tribute to the plight of creatures in captivity, Jungen modeled second-hand leather furniture into the figure of a performing elephant, measuring five and a half meters long, and four meters tall.” Davor standen hier Henry Moores “Large Two Forms”. Jungen verwendet gerne weggeworfenes Material. In seiner Arbeit “Prototypes For New Understanding” (2003) gestaltete er weggeworfene Sportartikel zu Objekten, die den Masken nordwestkanadischer Ureinwohner nachempfunden sind. Brian Jungens Mutter ist im übrigen eine Dane-zaa, sein Vater Schweizer.
Das Museum liegt zwischen der voll versiegelten Downtown mit Büro- und Geschäftshochhäusern im Süden und eher durchmischteren, offener bebauten Gebieten, mit älteren Häusern zwischendrin und Grün drumherum, im Norden. Der Bau wurde von Gehry erweitert: nach außen eine leicht gebogene Fassade aufgesetzt, Holzrahmen (Douglasie) mit Glas (dahinter die Skulpturengalerie), innen spiralförmige Holztreppenhäuser, die den ebenfalls neuen Südflügel (Glas, Titan) mit dem historischen Kern des Museums verbinden. Es scheint sich um ein sehr aktives und gut angenommenes Museum zu handeln; meine örtlichen Kolleg*innen erzählen von Mitgliedschaften, und wie oft sie mit ihren Kindern zu Veranstaltungen da wären.
Ein Werktag. Ich bin mit dem Fahrrad hier; das Hotel stellt seinen Gästen gratis Leihräder zur Verfügung, großartige Sache. Meine Gewährsleute in Toronto hatten mich vor dem Fahrradfahren gewarnt, erst rezent geschaffene Radstreifen-Infrastruktur, achtlose Autofahrer. Im Vergleich zu Wien allerdings der sprichwörtliche Lercherlschas. Man teilt sich halt die Radstreifen mit Bushaltestellen und parkenden Autos, eine transatlantische Konstante.
Zu mir parallel erschließt sich eine große Schulklasse im unteren Teenagealter mit einem selbstironischen Lehrer das Museum, der die gelegentlich etwas überbordende Aktivität seiner Schützlinge liebevoll sarkastisch aufzufangen weiß (Respekt!), ebenso wie ihren Drang, unterhalten werden zu wollen (“that’s boring!”; I feel you, teenager, I feel you). Im obersten Stock im Rahmen des Fotofestivals “Contact” eine riesige Wolfgang-Tillmans-Retrospektive, die mich mäßig interessiert. Sammlung europäischer Malerei im Erdgeschoß aus Zeitgründen übersprungen (sie reicht bis ins Mittelalter zurück und ist bestimmt sehenswert).
Viel kanadische Kunst, klar, im aus Zeitgründen leider zu flüchtigen Vorbeigehen notiere ich die intensive Auseinandersetzung der Malerei mit Landschaften, die angesichts von deren Weite und teilweise beachtlichen Entfernung von besiedelten Gebieten dann doch eine andere Dimension hat als im vergleichsweise zersiedelten Mitteleuropa. Auch notiert: “Les Automatistes”, eine in den frühen 1940er Jahren entstandene Bewegung künstlerischer Dissidenten in Montreal, stark vom Surrealismus geprägt.
In den Tagen vor dem Museumsbesuch mehrere Gespräche über Diversität in Kanada und dessen nicht eben spannungsfreie Selbstdarstellung als bunte, egalitäre Einwanderergemeinschaft; von daher interessieren mich einschlägige Arbeiten gerade mehr, auch der Umgang des Museums damit, räumlich, in Anordnungen, in Begleittexten. Der tribalistische Umgang mit kollektiven Identitäten in Nordamerika (USA ebenso wie Kanada) ist für mich immer noch befremdlich; der Wert, der auf präzise Zuschreibung von ethnisch kodierten Herkunftsangaben und Stammeszugehörigkeiten gelegt wird, das starke Festhalten an Vergangenheit, das damit einhergeht und paradoxe Festschreibungen erzeugt, die in ihren Konsequenzen oft die emanzipatorische Absicht unterlaufen, aus der heraus sie (auch) entstanden.
“There’s no better time to be indigenous in Canada than today”, sagte M., die ihre Familiengeschichte mit Métis / Ashishinabe-Hintergrund im übrigen nur deshalb bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen kann, weil ihre Vorfahren irgendwann zum Katholizismus übergetreten sind und die katholische Kirche so hervorragende Dokumentations- und Kontrollmechanismen ausgeprägt hat (so, wie halt auch viel historisches Familienwissen in Österreich aus der Nazizeit stammt). Jetzt, heute, wird viel aufgearbeitet, nicht zuletzt wegen der Recherchen zum Zwangserziehungssystem der “Canadian Indian residential schools”, der damit verbundenen Traumata, der Toten. Mit einer positiveren Bewertung des Indigenen geht aber auch ein starker Identifizierungsdruck einher. Auch M. hatte sich lange Zeit nicht offiziell als “indigenous” zertifizieren lassen, den staatlichen Umgang mit dieser Kategorie abgelehnt, dann aber doch eine Art coming out unternommen. Begleitphänomene: Es gibt Vorwürfe falscher Zertifizierungen, Vorwürfe von Identitätsbetrug, schwierig zu behandeln, denn oft fehlen tatsächlich Dokumente. Das Ganze nicht leicht zu nehmen, denn Zertifizierungen ermöglichen Zugang zu Fördertöpfen, zu Ressourcen. Festschreibungen.
Auch in den Kurzbiografien zeitgenössischer Künstler*innen in der AGO viele Festschreibungen indigener Hintergründe und Identitäten; sie kommen mir aber recht differenziert vor, es ist ja dort, wo Prozesse und Probleme indigener Identität und Geschichte von Künstler*innen selbst behandelt werden, nicht unerheblich, wenn dies vor einem biografisch relevanten Hintergrund erfolgt. Die Anordnung im Museum zeigt aber auch die Zwiespältigkeit im Umgang mit dem Indigenen in der Kunst recht gut. Auf der einen Seite viele Künstler*innen mit indigenem Hintergrund in der Abteilung für zeitgenössische kanadische Kunst, zwischen anderem, dort ist das Indigene Teil individualisierter, personalisierter Kunst und tritt in Biografien zutage. Auf der anderen Seite, in anderen Räumen, Sammlungen anonymer indigener Kunst als Produkt von Kollektiven; geschnitzte Tiere, Masken. Als hätten diese beiden Welten und Kunstformen nichts miteinander zu tun. Vielleicht hätte ich der Wolfgang-Tillmans-Retrospektive im obersten Stockwerk doch mehr Aufmerksamkeit schenken sollen — andere Tribalismen, so als Kontrastphänomen.
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Notiertes.
Alan Michelson: Theatrum Orbis Terrarum, Installation. “Named after the first modern European world atlas, Theatrum Orbis Terrarum (Theatre of the World) consists of four videos projected sequentially onto four white globes. Working with layers of image and sound, Mohawk artist Alan Michelson incorporates a Haudenosaunee perspective through music as well as the words of Mohawk activists Richard Oakes, leader of the 1969 occupation of Alcatraz, and Ellen Gabriel, a spokesperson during the 1990 Kanien’kehá:ka Resistance (or “Oka Crisis”) in Quebec. Theatrum brings together material from dozens of maps, illustrations, paintings, photographs, videos, and audio, to disrupt five hundred years of colonial history through powerful displays of Indigenous resistance.” Quelle. Im dunklen Raum sehr eindrucksvoll, auch akustisch.
Anne Collier: Negative (California), 2013. Link. “In 2007, Collier reappropriated a 1970s-style poster of a nude figure walking into the surf, a subject she revisited in 2013 when she found a large-scale negative from the shoot on eBay. By presenting the negative as the artwork. Collier changes the terms of the image from erotic, natural beauty to otherworldly desolation.”
Emmanuel Osahor: “Toronto-based artist Emmanuel Osahor imagines gardens as sanctuaries that evoke acts of care. He uses photographs of plants and flowers as a starting point, adding details from his imagination as he develops these works. Neither of his parents had time to tend their own gardens, but as he notes, ‘the painting is more about desire.’ These fictional gardens, brightly splattered across unstretched canvas, evoke mystery and a sense of longing for an idealized past.” Links zu den Arbeiten: I Have Been Thinking of My Father’s Garden, I Have Been Thinking of My Mother’s Garden, beide 2021.
In einem langgestreckten Raum Bronze-Abgüsse von zwei von Rodins “Bürgern von Calais”, Eustache de Saint-Pierre und Andrieux d’Andres (hinter seinem Adam). Die Enge des Raumes (vor allem im Verhältnis zum angrenzenden weiten Raum für Skulpturen von Henry Moore) beklemmend, der Ernsthaftigkeit des Motivs der “Bürger” entsprechend: hochrangige Persönlichkeiten der Stadt, die 1347 während der Belagerung durch die Engländer ihre Leben im Austausch für die Freiheit der Stadt angeboten haben sollen (sie überlebten, den Chroniken zufolge, dank der Intervention der englischen Königin). Die Website erzählt, dass der Stifter der beiden Bürgers (gegossen 1987 und 1988), ein kanadischer Kunstsammler, während eines Schulausflugs in seiner Kindheit durch die Skulptur des Adam im Museum zum Sammeln von Kunst und der späteren Unterstützung des Museums angeregt wurde (seine Frau wird dabei gleich mitgenannt, war die auch schon beim Schulausflug dabei?), weshalb er 2011 die zwei Rodins stiftete: “… our decision to give back to our beloved country a token of our appreciation for the freedom Canada has given to all who have arrived here as immigrants.”