Der viel gefiederte Muskel
Der Physioknecht hatte das ganze Übungsprogramm noch einmal mit mir duchgesprochen; es war unser letzter Termin. Die Symptomatik, die ich ihm schildertee, würde eindeutig auf Instabilitäten hinweisen, die man nur bedingt, aber doch bis zu einem gewissen Grad in den Griff kriegen könne, durch Alltagsanpassung, Kraft-Ausdauertraining und verbesserte Koordination. Der Musculus multifidus, der viel gefiederte Muskel, zum Beispiel, wäre für die Stabilität der Wirbelsäule außerordentlich wichtig; er zieht sich tief drin an der Wirbelsäule entlang. Man müsse ihn trainieren, das könne man aber nicht direkt, sondern nur indirekt durch Koordinations- und Balanceübungen. Tandemstand, zum Beispiel, und wenn du den einigermaßen kannst, dann verschärfen, zum Beispiel durch Drehen und Wenden des Kopfes, und wenn du das draufhast, mach’s mit geschlossenen Augen. Ich bräuchte viel Geduld und Durchhaltevermögen, meinte der Physioknecht, aber ich wäre am richtigen Weg.
Die MS Vindobona ist ein Ausflugsschiff der DDSG Blue Danube, seit 1995 die Nachfolgegesellschaft der Ersten Donau Dampfschifffahrts Gesellschaft in der Personenschifffahrt. Das Schiff wird auf deren Website für seine außergewöhnliche Innenausstattung im Hundertwasser-Design angepriesen. Man kann sich dort auch ein 360°-Panorama reinziehen. Das Design hat eine recht angenehme Retro-Anmutung, eine Zeitkapsel, inklusive Zigarettenautomat mit Schillingpreisen.
Die Internetplattform Klingt.org für experimentelle Musik und Kunst hatte die geniale Idee, den ersten Teil der Feier ihres 25jährigen Bestehens auf der MS Vindobona abzuhalten. Also, wahrscheinlich gebührt die Ehre für die geniale Idee genau genommen Dieter Kovačič (dieb13), der Klingt.org initiierte und betreibt (den mit dem Wienerischen nicht Vertrauten sei noch erklärt, dass “org” auf Wienerisch “arg” heißt, hier eher im Sinne von “merkwürdig, verrückt, außergewöhnlich”, sagen wir einfach: weird).
Über knapp drei Stunden sollte die MS Vindobona von der Anlegestelle Reichsbrücke aus erst südwärts zum Kraftwerk Freudenau schippern, dann nordwärts bis nach Nußdorf und von dort wieder südwärts zur Reichsbrücke. Es gab zur Einstimmung am Achterdeck (so sagt man, glaube ich) eine klangliche Intervention von Beauchamp & Geissler, begleitet von eisigem Winterwind, dem Rauschen der graubraunen Donauwellen am Schiff und aufgeregtem Ausflugsgeplappere der vielen Gäste, eine schöne Menge an halb Bekannten und anderen freundlichen Wesen verschiedenster Altersstufen; manche hatten auch Kinder dabei. Im Vorfeld war klargestellt worden, es würde für die drei Stunden kein Essenscatering an Bord geben, nur Getränke (von ausnehmend aufmerksamen Ausflugsschiffkellnern an die Tische serviert). An den Tischen in Ober- und Unterdeck saßen dann die Kids, malten und zeichneten und spielten und knabberten Zeug aus mitgebrachten Tupperwaredosen. Ein Bub, geschätzt unter fünf, trug einen sehr kleidsamen türkisen Gehörschutz mit Elefantenlogo drauf (Schallwerk), während er — da spielten dann Bulbul ordentlich auf, am Bug des Unterdecks, innen — energisch mit seinen Farbstiften rote Flächen schraffierte.
Als wir also südwärts schipperten, mit Tee und Kaffee, Bier und Wein versorgt, begann Susanna Gartmayer mit ihrer Bassklarinette durch den Gang am Oberdeck zu gehen, das Instrument dröhnend, schmeichelnd, vibrierend, eskalierend, klappernd. Auf und ab ging sie, langsam und konzentriert, manchmal blieb sie stehen, und wenn so eine Bassklarinette direkt vor dir steht und energisch geblasen wird, da fährt dir das aber mindestens bis in den Musculus multifidus, ehrlich, sowas wirkt ungemein stabilisierend. Die Menschen waren recht still und hörten zu und schauten hin. Ich tue mir ja immer schwer so nahe heranspazierende Musiker*innen anzusehen, ihnen unverwandt zuzusehen, es fühlt sich auf unangenehme Weise distanzlos und aufdringlich an. (Und um ehrlich zu sein, es hätte auch eine Kontraaltklarinette sein können, die Gartmayer dem Vernehmen nach auch spielt; ich kenn’ mich da nicht so aus.) Jedenfalls: einen Klangraum so zu erleben, auf einem Schiff, mit Blicken auf ein vorbeiziehendes Draußen, das allmählich dunkler wird, das ist schon sehr speziell.
Es ging dann weiter, so ausflugsfahrtmäßig mit Geplapper und Gelächter, Herumstehen, Herumsitzen und immer wieder zwischendurch raus aufs Achterdeck, zu Wind, Wasserrauschen und Ausblick — die vertäuten Fischerboote an der dunklen Küste der Donauinsel, die sleeken neuen Hochaustürme am südlichen Westufer der Stadt, die Hotels der Marina. Wien ist ja bekannt dafür, dass die Stadt der Donau kein Gesicht zeigt, sondern eher den, äh, Rücken.
Bulbul spielten, wie gesagt, am unteren Deck, in gewohnt lauter und trockener und präziser Manier; es wurde dann recht heiß und, ehrlich gesagt, Bulbul schön und gut, aber das Achterdeck, die Stadt in der Nacht vorbeiziehen sehen, das hast du nicht so oft, also lieber wieder raus: vorbei an den jetzt in der Dunkelheit erleuchteten Neubauten, Hochhäusern, Türmen, an den angestrahlten Monumenten der Kaiserzeit und ihrer Ingenieurskunst (die Schemerlbrücke von Otto Wagner). Der Fluss, der auch bei einem beängstigenden Hochwasser die Stadt nicht mehr komplett überfluten kann, weil die Ingenieurskunst das Wasser mithilfe der künstlich angelegten Donauinsel, mit klug gebauten Entlastungsgerinnen und Wehren regulieren kann; Regionalzüge und U-Bahnen, die sich als Leuchtbänder am Ufer entlang und über Donaubrücken ziehen. Aus dem Dunkel taucht ein Lastkahn auf, der Kohle schippert, Autobahnbrücken, aber du hörst nichts, denn das Wasserrauschen und Bulbul übertönen viel.
Am Ende läuft dann noch Mats Gustafsson mit seinem Saxophon durch den Gang am Oberdeck, gewissermaßen auf Susanna Gartmayers Spuren. Dort entwickelt sich ein reizender Dialog zwischen den Geräuschen, die er seinem Instrument entlockt, entbläst, entkitzelt, und dem Kichern, Glucksen und Kreischen einiger Kinder an einem Tisch. Gustafsson, im kurzärmligen T-Shirt, spaziert dann tatsächlich noch heroisch aufs Achterdeck und bespielt die kalte Kulisse der dunklen Stadt an der Donau; ein ganz besonderer Moment.
S. sagt später, beim zweiten Teil der Feier in einem innenstädtischen Kellertheater, es wäre eine Utopie gewesen, da, am Schiff, mit all diesen Menschen und diesen Klängen. Ein utopischer Ort, der sich an der Stadt vorbeibewegte; ich denke an die stabilisierenden Muskeln, die du nicht direkt antrainieren kannst. Das Schiff nähert sich der Anlegestelle nach einer Wende von Süden her. Durch die angelaufenen Scheiben zeigt sich die angestrahlte Kirche am Mexikoplatz. Der Platz erhielt seinen Namen in Gedenken daran, dass Mexiko im März 1938 das einzige Land war, das vor dem Völkerbund offiziellen Protest gegen den gewaltsamen Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich einlegte.
comment [2]
Inner Worlds, Outer Worlds
Seit der ersten Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika antworte ich auf die Frage, wie es mir geht, gewohnheitsmäßig mit, also mir persönlich prächtig, aber, weltlagenmäßig wäre ich denn doch eher besorgt, empört, bekümmert, je nachdem.
Doch, nein, wenn ich es genau bedenke, kam diese Form anders auf: Als ich nach einer recht schwierigen Zeit meines Lebens mit Pendelei zwischen Wien und Baden-Württemberg, aus einer Arbeitsumgebung, die mir nicht entsprach, wieder ganz nach Wien ziehen konnte, allmählich hier gemeinsam mit G. für uns neue Lebensbedingungen schaffen, da kam das Lebensgefühl “prächtig” auf, das ein “prächtig” trotz widriger Umgebungsumstände war, zu denen auch die Präsidentschaft Trumps zählte. Auch die widrigen Umstände skalieren, von global über regional nach lokal. Es war jedenfalls nicht so, dass die “prächtig-aber”-Dialektik durch eine Verschlechterung des Äußeren zustande kam, sondern durch eine Verbesserung der unmittelbaren Lebensumgebung, wie sie sich anfühlte, lebte.
Es ist gelegentlich therapeutisch, den Form und Tonfall bei geänderter Lage, Stimmungslage, Gefühlslage, gerade nicht zu verändern. Es hilft, Formen zu behalten, wenn sich die Inhalte, Absichten, Wünsche, Empfindungen ändern. Eine dann entstehende Spannung kann nicht beliebig weit aufrechterhalten werden, freilich, die Dinge können zerreißen.
Vor einigen Monaten saß ich an einem Tisch in einem Machtzentrum der Republik. Mir gegenüber der Staatspräsident Indiens, neben ihm der Bundeskanzler, meiner Sicht durch einen Blumenstrauß entzogen. Weitere Herren am Tisch, die Wissenschaft, Wirtschaft, Industrie und Beamtenschaft repräsentierten. Eine Medizinerin, zur ESA-Ersatzastronautin auserkoren, und ich, wir waren die Frauen am Tisch. Der Smalltalk mit den Herren links und rechts neben mir führte bald dazu, dass die Herren, die sich natürlich alle kannten, sich über mich hinweg unterhielten, man kennt das. Das offizielle Österreich zeigt sich mir gesprächsmanierenmäßig regelmäßig stark beeinträchtigt, zwischen potschert und gibtsdenndes.
Man hielt sich mit innenpolitischen Äußerungen nicht zurück, die eigentlich nicht zum Anlass passten, die der Anlass keineswegs evozieren hätte müssen. Man hätte die Gosch’n halten können, wie so oft in diesem Land, über das Wetter reden, indische Kulturschätze, Reisen, es gibt ja viele unverfängliche Gesprächsthemen. Es ging aber um, nein: nicht um, sondern gegen die Sozialdemokraten, vor allem den aktuellen Parteichef, und es war nicht einmal nur unfreundlich, was da gesagt wurde, es war nachgerade beleidigend.
Noch evident beleidigender als die anerkennenden Worte über den indischen Staatspräsidenten und Indien, die sich anhörten, als wäre man hier überrascht, dass man dort Schuhe trägt oder sich die Nase putzt oder bis zehn zählen kann. So ein Beleidigtsein darüber, dass es die dort wagen können, erfindungsreicher, technisch versierter und besser organisiert zu sein. Noch evident selbstentlarvender als die anerkennenden Worte über die gute Vorbereitung der indischen Delegation, die offenbar professionelle Dossiers über ihre österreichischen Gesprächspartner*innen erstellt hatte und bestens informiert war, eine Eigenschaft, die die österreichische Seite nicht an sich würdigen konnte.
Ich wollte nicht unhöflich sein und hörte mit einer Miene zu, die sich steinern anfühlte, während ich die vegetarische Menüoption verzehrte, prächtige Karfiolschnitzel. Die Herren links und rechts hatten erleichtert kundgetan, wie froh sie wären, dass es auch Fleisch gäbe, die Protokollstelle hätte ja ursprünglich gemeint, aus diplomatischer Höflichkeit dem indischen Gast gegenüber nur Gemüse servieren zu wollen, aber wo käme man denn da hin. Da freut sich das krachende Kalbsschnitzel.
comment [2]
Problembeschreibung
“Es ist meine tiefe Überzeugung, dass Radikale für kein einziges Problem eine Lösung bieten, sondern nur davon leben, Probleme zu beschreiben”.
Das sagte der nunmehr zurückgetretene österreichische Bundeskanzler in einem auf der Plattform X veröffentlichten Video. Ein Handyvideo, da stand er noch vor österreichischer Flagge. Das war alles, was man von ihm bekam, im Internet, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, ein hochkant stehendes Video mit aufgeweichten Randzonen zur Formatauffüllung.
Den ganzen Abend über dachte ich über die seltsame Antiklimax des Satzes nach, der mit dem Wort “beschreiben” am Ende vollends absackt. Die Hilflosigkeit des Bundeskanzlers, der noch in seinen letzten Worten gegenüber einer Partei, deren Vorsitzenden er immerhin als Sicherheitsrisiko für den Staat einstufte, mit dem er nicht ums Verrecken koalieren wollte, der noch in diesem seinen Abgangsstatement den Rhetoriktrainer, als der er ausgebildet wurde, nicht abschütteln konnte, die ganze Tragik einer Persönlichkeit, die in einem Politikstil gefangen und nun von den Mächten, die ihn oben hielten, fallen gelassen das Reale nicht benennen kann, sich bis zum Ende in das Euphemistische hineinzögert. Seit wann lebt der besagte “Radikale”, der Vorsitzende einer rechtsextremen Partei, Propagateur von Massenabschiebungen und Freund Rußlands, der ehemalige Innenminister, der den eigenen Verfassungsschutz sabotierte, seit wann lebt dieser Mensch davon, Probleme zu beschreiben?
Kaos (Serie, 2024; Charlie Covell)
Charlie Covells “Kaos”, erstmals nach langer Zeit eine mit großem Genuss gesehene Serie. 8 Episoden, eine überbordend lustvolle, doppelbödige Erzählung über die großen Kräfte der Gegenwart im Kleide der griechischen Mythologie. Jeff Goldblum als Zeus, Janet McTeer als Hera, David Thewlis als Hades, und so weiter. Der Olymp, eine launisch herrschende Firma, die Menschen und Reichtümer verschiebt, als gäb’s kein Morgen. Liebevoll unsubtil gestaltet — das Gemälde von Leda und dem Schwan hinter Zeus’ Sitzmöbel im Palast, der einer pseudoantiken Neureichenvilla gleicht, die Unterwelt als brutalistisch-bürokratischer Albtraum, gewissermaßen als Ellis Island, von wo aus die Guten und mit Obulus Versehenen zur Wiedergeburt antreten dürfen, während die anderen in einem undefiniert grauen Zwischendasein ohne Geschmackssinn Hilfsdienste leisten dürfen, der Nebeneingang in die Unterwelt in einer Biker-Kaschemme in der texanischen (oder so) Wüste.
Besonders ansprechend dabei die Rollenwendungen der Frauenfiguren. Orpheus, der Rockstar, steigt Eurydike nach, aber Eurydike entdeckte eigentlich am Tage ihres Todes, dass sie ihn nicht mehr liebt, und dann ist der Trottel auch durch seine selbstsüchtige Gefühligkeit dafür verantwortlich, dass sie nach ihrem Tod im brutalistischen Albtraum steckenbleibt. Es geht so aus, wie es in der Mythologie ausgeht (sie kommen nimmer z’samm), aber besser.
Ambivalenz looms large. Hera, von der Figur der in passiv-aggressivem Racheverhalten gefangenen Ehefrau eines unkontrollierbaren Kleinkind-Ehemannes zu einer leidenschaftlichen, machttaktisch gewieften und vergnügt brutalen Hüterin von Geheimnissen transformiert. Da ist diese eine Szene, in der sie auf einer Sonnenliege an Deck der recht protzigen Yacht des Poseidon, umstehend ihre stummen Dienerinnen (deren Zungen entfernt worden waren), von Poseidon oral befriedigt wird. Sie genießt es, dabei laut zu sein, ihr Geheimnis den Dienerinnen in die Ohren zu brüllen, you’re the best, schreit sie heraus. Im postorgasmischen Dialog fragt er, fast schüchtern, ob sie ihn eigentlich hätte heiraten können, und es entspricht ihr ganz und gar zu antworten if I had married you I would be doing this with him. Sie kennt sich und ist ganz, was sie ist, so sind sie in der Chefetage der griechischen Gottheiten. Ohne zivilisatorischen Firnis leben sie ihre Launen aus, dabei nur von Sorge um die Erhaltung jener Bedingungen getrieben, die es ihnen ermöglichen, ihre Launen auszuleben — argwöhnisch darauf achtend, dass diverse launische Wesen, Menschen, Halbgötter, andere Götter, auch ja nicht vergessen, dass ihre Launen, die der göttlichen Chefetage, Schicksal wären.
Überall sprosz das Gras durch die weissen Tischtücher, oder wie sagt man
Randbemerkungen
Sie kommt abends noch zu dieser einen Weihnachtsfeier. Nachmittags hatte sie einen Termin in der Schule. Der Sohn, suspendiert. Ein tastendes Gespräch darüber, da, am Rande des Tisches mit den Pierogi, dem Erdäpfelstrudel, den Rotweinflaschen. Am Ende steht die Geschichte eines zu Beginn der Pandemie 10jährigen, der die Lockdowns nicht verkraftete, währenddessen und danach irgendwie abdriftete, sich zurückzog, andere Abgedriftete kennenlernte, da draußen, jenseits von Familie und Schule, sich entfernte. Drogen, wie nun beim Schultermin klar wurde, auch wenn noch nicht klar ist, welche und in welchem Ausmaß. Ich erzähle ihr, der Mutter, von der anderen im Umkreis, deren Tochter, damals Anfang 20, in der Frühphase der Pandemie Alkoholikerin wurde. Der letzte Stand, den ich kenne, man sieht sich ja leider so selten, war ein gescheiterter Entzug, ein Rauswurf von zu Hause, weil es nicht mehr ging. Das möchte man nicht, sagt die Mutter des Sohnes ruhig.
Er fährt nicht mehr mit dem Rad, es ist ihm am Heimweg, da, mit den Straßenbahnschienen, zu gefährlich. Er hat jetzt so ein Elektromofa. Er stellt fest, dass er, dessen Hautfarbe etwas dunkel ist, recht oft für einen Essenszusteller gehalten wird. Das stört ihn.
Bei der Konferenz vor zwei Wochen die eine aus dem Nachbarland, von der ich wusste, sie hatte ein Mädchen aus Afrika adoptiert. Sie so herzlich jetzt, so ungemein konstruktiv in diesem professionellen Kontext, in dem wir jetzt zueinander stehen, in definierten Funktionen. Einmal, es ist länger her, saßen wir gemeinsam in Seminaren, knapp nach und knapp vor Abschluss der jeweiligen Doktorate, lasen dann später einander Namen im Zuge von Bewerbungen um die gleichen Professuren. Da gab es auch merkwürdige Episoden, so Kieselsteine in den Schuhen, so Dinge, bei denen du dir heute denkst, jo mei.
Da also, bei der Konferenz, tauchte immer wieder eine Dame auf, niemand schien sie zu kennen. Sie stammte aus dem gleichen afrikanischen Land wie die Adoptivtochter, sie sprach sehr gut deutsch und war elegant gekleidet, wirkte aber etwas verloren oder wurde etwas verloren gewirkt. Sie war bei einem der Abendessen, im Restaurant, verhielt sich auf eine Weise, wo du unsicher bist, ist das jemand, die du unbedingt kennenlernen musst, oder jemand, die Hilfe braucht, die du ihr nicht geben kannst.
Sie, die Nachbarländerin, sprach mit großer Aufmerksamkeit und Herzlichkeit mit ihr, der Afrikanerin. Sie sagte dann nachher nichts weiter zur Person. Ich fragte auch nicht nach; es war, wie es war, das hatte Selbstverständlichkeit an sich. Später dann, in einem Lokal mit jungen Studis und billigem Alkohol, wo sie zu uns alten Säcken so freundlich waren, oder wirkten, wie zueinander, da erzählte sie die Geschichte ihrer Adoptivtochter. Reisen nach Afrika. Bemühungen, die Herkunftsfamilie zu finden, Verbindungen herzustellen. Heranwachsen, Aggression, Kliniken, zerbrochene Ehe. Sie lächelt dabei, immer wieder.
Nichts muss so bleiben, wie man glaubt, dass es wäre
Vor eineinhalb Monaten hatten wir sie aus dem Krankenhaus entführt, im Rollstuhl, wenige Tage vor der Operation. Sie wollte den Hund sehen, der Hund durfte natürlich nicht ins Krankenhaus hinein, also rollte der Elfjährige sie im Rollstuhl nach unten, nach draußen, und dann war es recht windig, ich lieh ihr meinen Schal, den roten, und eins gab das andere, und so rollten wir, ausgelassen, in ein nahegelegenes Café, mit dem Hund. Der Elfjährige, erst noch so ernst und schweigsam, er taute auf, und das Gespräch ging so hin und so her, erstaunlich, wie sie heute schon in Jugendfußballvereinen Videoanalysen machen, mit Drohnen und so, sowas, und was willst du denn in deinem Schulpraktikum machen, echt, zur Biologin ins Labor?
Das Gespräch ging über das Thema hinweg, manchmal auch daran rührend, ja. Es wurde viel fotografiert, er, der Mann, ruhig, so darauf achtend, dass nichts passierte, dass alle zufrieden waren, er hatte das Handy immer im Anschlag. Man wusste nicht, damals, ob sie in ein paar Tagen noch sprechen, denken, alles bewegen können würde, was sie nun bewegen konnte. Die Furcht war am Tisch voller Tees und Kaffees und Nutellapalatschinken, und sie sprach sie dann auch aus, in Fragen, die niemand beantworten konnte und die mit “glaubst du, dass ich jemals” begannen. Sie neigt dazu, ihr Gegenüber zu überfordern, im Gespräch immer etwas zu viel zu erfragen, zu erwarten, so ist sie. Sie kann auch heute noch sprechen, denken, und alles bewegen; es ging in der Hinsicht gut aus, aber in der anderen nicht, denn jetzt ist ein deutliches Krankheitsbild da. Eines von denen, bei denen du weißt, aber nicht weißt, du weißt, nicht mehr lange, jedenfalls nicht mehr so lange, wie du möchtest, aber du weißt nicht, wie lange, und vor allem nicht, wie.
Sie lud Leute ein, so eineinhalb Monate später. Sie sang. Es war Hauskonzert angekündigt gewesen, formloses Herumhocken, Schlürfen und Knabbern, und dazu Hauskonzert; die Klavierlehrerin des Elfjährigen spielte, sie sang. Sie hatte das Singen entdeckt, mittlerweile, die Klavierlehrerin hatte ihr eine Gesangslehrerin empfohlen. Sie sang an diesem Abend entgegen den Empfehlungen der Lehrerin, denn die Lehrerin vertrat die Meinung, sie müsse ihre Stimme erst noch finden, sie sei noch in ihrem Körper gefangen und müsse gefunden, befreit, entdeckt, entwickelt werden. Aber sie wollte singen an diesem Abend, deutschsprachige Lieder aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und noch etwas Gounod, alles mit Klavierbegleitung. Sie begann mit “Kauf’ dir einen neuen Luftballon”, komponiert von Anton Profes, als Teil des Filmes “Der weiße Traum” (1943), ein Eisrevuefilm, der in Wien spielt. Ein Lied, das ermuntert, Träume der offensichtlich unrealisierbaren Art zu verfolgen, ihnen nachzugehen, sie zumindest nicht aus den Augen zu lassen; man kann da viel hineindeuten, zumal, wenn man den Kriegszusammenhang bedenkt, den Faschismuszusammenhang, in dem das Lied enstand. Es gibt davon eine Remix-Version mit leicht erweitertem Text. Wo man vor Wut fast aus der Haut fahrn könnt. Dann denkt man manchmal: Ach, wär das schön, Wie ein Ballon jetzt in die Luft zu gehn. Den Wut-Teil, der im ursprünglichen Text fehlt, den singt sie besonders überzeugend. Der Körper als Werkzeug der Wut und der Träume. Das ist in diesem Moment sehr stimmig.
Der Elfjährige, er spielte dann noch Trompete, später, schon gegen zehn, die Nachbarn, nun ja, aber gut, spiel was. Es war nichts Konkretes, melodiöse Phrasen eher, angedeutete Musik, der Hund, der zu seinen Füßen lag, knurrte erst, dann heulte er mit, und alle lachten.
I never felt so welcome in a public toilet (Beijing, September 2024)
Am späten Nachmittag dieses einen, langen Gehtages kam ich in Gulou zu einem Café; es lag an etwas, das aussah wie ein Platz, abseits der breiten, geschäftigen Straße von Ost nach West; es war jedenfalls eine rein zufällige Öffnung in den blockartigen Strukturen der Stadt, die keine Plätze vorsieht. Eigentlich suchte ich eine bestimmte Cocktailbar, von der ich auf WeChat gelesen hatte, fand sie aber nicht, weil ihr Straßeneingang noch verschlossen war. Es war ja noch früh. Die Kellnerin des Cafés jedenfalls antwortete auf meine gestisch vorgetragene Frage nach Alkohol mit einer Geste in einen angrenzenden Raum, der wie eine Höhle anmutete. Eine fein polierte Höhle. Eine anheimelnde Höhle. Das war die gesuchte Bar.
Eine Barfrau war bereits aktiv, sie wirkte streng mit sehr glatt zurückgestrichenen Haar. Pferdeschwanz. Der Martini, den ich dann wählte, sei recht stark, warnte die Barfrau. Er war angenehm bitter, bestand aus Martini, Sherry, Gin, Bilouchun (Grüntee) und einem großen Eiswürfel, im Gaiwan serviert. (Monate später lerne ich in einer Bar in Wien, dass die Herstellung dieser Eiswürfel keineswegs trivial sei, man würde sie hier bei einem Speziallieferanten bestellen, weil das Handling sonst zu aufwändig wäre.) Sehr kleine Schlucke, denn das Zeug ist tatsächlich recht stark. Jeder Schluck schmeckt anders, während das Eis langsam in den Cocktail schmilzt. Hinter der Bar treffen vier Leute Vorbereitungen für die Nacht. Sie schneiden und reiben; sie laufen hin und her, und zwar wirklich viel; sie gähnen. Der Alkohol fährt in die Blutbahnen und lässt die Szenerie wie ein Schauspiel wirken.
Als ich das Lokal verlasse, ist es schon dunkel; es wird hier ja schon früh dunkel. Eine öffentliche Toilette, von der es hier viele gibt, vermutlich auch, wie C., die italienische Kollegin meinte, weil es in den Hutongs eben keine privaten gäbe. In der Damentoilette nur dezent abgegrenzte Verschläge, keine Türen. Ich zögere instinktiv kurz, doch dann sagt eine Dame mittleren Alters mit herzlichem Lachen laut “Please come in!”, während sie ihre Hose hochzieht. I never felt so welcome in a public toilet.
Nichts will sich einladend anfühlen, was nach Nacht wirkt, gerade noch aber, was zum Tag gehört. Ich gehe in einen Milch- und Brotladen, weil da alle hineingehen, vor allem Frauen. Es gibt dort Croissants und ähnliches Gebäck, süß oder mit Würsten drin, Durian-Milch-Creme im Kühlregal. Und wenn man um diese Buffets herumgegangen ist, steht man plötzlich vor einem Glasschrank mit sauber gespülten Flaschen, die sich die Frauen herausnehmen, und dann dürfen sie aus einem weiß emaillierten Zapfhahn Milch in die Flaschen füllen, unter Anleitung, so nötig. Spitze Schreie der Begeisterung. Es gibt Gespräche mit weiß gekleideten Milchexpertinnen hinter dem Zapfhahn, Milchgespräche, vermute ich. An der Kasse packen weiß gekleidete Frauen mit Hygieneplastikhäubchen über ihrem schwarzen Haar die Milchflaschen vor den Augen der vergnügt jauchzenden Kundinnen in Kühltaschen. Ich nehme nur eines der dicken “Beijinger Joghurts” (Běijīng suānnǎi) mit den blauen Papierhäubchen, auch Nai lao genannt. Nailao ist eigentlich ein fermentiertes Milchgetränk, aus mit Nüssen, Rosinen, Zucker und Reiswein aufgekochter Milch, kredenzt in Keramikbechern mit blauweißen Papierhäubchen, durch einen Strohhalm getrunken. Es gibt sie überall, die Nailao-Becher. Hier gibt mir die Kassadame für meinen Nailao-Becher an der Kassa extra eine Kühltasche. Ich möchte sie spontan als zu groß gewählt zurückweisen, nehme sie dann aber doch, als Souvenir.
Dann doch noch, obwohl müde und eh schon leicht angetrunken, in die andere Bar, die namens “FLAVOUR”, von der ich auf WeChat gelesen hatte. Sie lag in einer Nebengasse, etwas abgelegen von anderen Lokalitäten und Geschäften, im Dunkeln. Kühler, unprätentiöser Stil, wie so ein New-Wave-Lokal im Wien der ausgehenden 1980er Jahre. Karierter Boden, Sie wissen schon. Eine junge Frau hinter der Bar, unprätentiös, bei der Cocktailzubereitung sehr konzentriert und sorgfältig. Die Cocktails tragen poetische Namen, ihre Zusammensetzung erzählt von Sorgfalt und Liebe zum selbst Angesetzten. Ich nehme einen “Morning, Beijing” aus mit Sesam-Erdnussbutter-Sauce angesetztem Whisky, Shaoxing-Wein, Walnüssen, Pistazien und Zitrone; später koste ich noch ihren selbst angesetzten Limoncello. Die junge Frau spricht wenig Englisch, ich übe mein Duolingo-Mandarin. Die Screenshots einzelner Sätze aus der Duolingo-App, mit gezeichneten Charakteren, die kulturell mit der erlernten Sprache nichts zu tun haben und einen sehr feinen Verfremdungseffekt erzeugen, sind übrigens total leiwande Conversation Opener. Die Leute lachen sich einen Ast ab und nehmen das tollpatschige Bemühen, sich ihrer Sprache anzunähern, erfreut zur Kenntnis. Die Barkeeperin und ich, wir behelfen uns dann auch noch mit unseren jeweiligen Übersetzungs-Apps.
Auf diese Weise erkenne ich allmählich, dass alle Cocktails nach Filmen benannt sind, deren Titel sich mir aus dem Mandarin nicht unmittelbar erschließen. Aber man findet sowas ja mit seinem Endgerät. Eric Rohmers “Le rayon vert”, Ingmar Bergmans “Wilde Erdbeeren”. Der “Morning, Beijing” bezieht sich auf “Beijing ni zao” (1990, Regie Nuanxing Zhang), den ich nicht kenne; IMDB gibt als Inhalt an “A female bus conductor falls into confusion of career and love when getting along with three young men.” Ich nehme noch einen “rayon vert”; er besteht aus Gin, Klebreiswein, Mezcal, Zuckererbsen- und Schraubenpalmenextrakt (Pandanus amaryllifolius) und Zitrone (und einem großen Eiswürfel). Die quadratischen Untersetzer, emailliert, mit modernistischen Bildern bemalt, sind übrigens nach Motiven aus den cocktailnamensgebenden Filmen gestaltet.
Die Barkeeperin, Barbetreiberin war noch nie in Europa, aber in der Türkei. Türkei? Ja, da wären sie hingeflogen, und das, wovon sie mir begeistert erzählen möchte, stellt sich nach einigen Anläufen als Drachenfliegen heraus. Sie wären in die Türkei gereist, weil der Flug dahin billig war, und dort hätten sie Drachenfliegen probiert, das sei toll gewesen. Kulturelle Referenzen, Erfahrungen, Andeutungen; ich erzähle von meiner ersten Chinareise 1989, da war sie natürlich noch nicht geboren, woraus sich natürlich Gesprächswendungen ergeben, die als politische Andeutungen verstanden werden könnten, aber weder sie noch ich folgen den Andeutungen. Es scheint, als wüssten wir beide nur zu gut, worüber wir nicht reden können.
Before breakfast (Beijing, September 2024)
Beijing in Bildern: aus der Kleeblattkreuzung
Abends versuchte ich immer, noch spazieren zu gehen. Wir aßen meist recht früh zu Abend, in der Kantine des Forschungszentrums, die mittags gut gefüllt war, abends dagegen nur von uns drei bis fünf Europafuzzis in Gegenwart einer Mitarbeiterin. Wir hatten dann den ganzen Tag über, mit Ausnahme der Mittagspause, über Kopien von Handschriften gesessen, die wahrscheinlich seit gut Tausend Jahren niemand mehr genau gelesen hatte. Das war und ist etwas Besonderes, doch das Besondere rückte in die Ferne unserer Aufmerksamkeit, als wir versuchten, in der für uns begrenzten Zeit so viel wie möglich zu entziffern, herauszufinden, zu erkennen, mit Müdigkeit kämpfend hier, Rhythmen zur effizienten Muskelentspannung findend dort.
Wenn die Kopien dann eingesammelt waren, glitten wir langsam aus der konzentrierten Stille solitärer Gebeugtheit in raunendes Plaudern, die Muskeln bewegten und entspannten sich, bis irgend jemand lachte, dann lachten bald alle. Das war meistens noch, bevor wir in den Aufzug stiegen. Das Abendessen dann in der bis auf die gerne lachende Kantinenfrau und gelegentlich ein paar Männer, deren Hierseinsgrund ich nie verstand (es schien nicht nur die Kantinenfrau zu sein), leeren Kantine. Es war dann noch möglich, in die Abenddämmerung hinein spazieren zu gehen, gerade noch, denn es wurde früh dunkel.
Ich gewann keinen Sinn für den Rhythmus der Stadt. Rush hour schien immer zu sein, jedenfalls immer, wenn wir irgendwohin gingen oder fuhren, zu der einen Universität, zu der anderen Sehenswürdigkeit. Es waren jedenfalls in den Abenddämmerungen viele Leute unterwegs, wenn ich die mehrspurige Stadtautobahn entlang nach Westen ging, die sich bald mit der anderen Stadtautobahn nach Norden kreuzte, in einer Kleeblattkreuzung. Stadtautobahn, Bundesstraße, was immer, kein Sinn für Dimensionen; mehrspurig jedenfalls und breit.
Ich blieb da, in der Kleeblattkreuzung, gerne stehen, orientierungslos zwischen Grünflächen und jenen Fahrbahnen, die die Kleblattränder markierten. Sah zu, wie andere Fußgänger*innen genauso wie ich die Ränder überquerten. Sie schienen mir alle zu spazieren, zu schlendern, so mit Hände hinterm Rücken, Taschen baumelnd irgendwo vom Körper. Männer in T-Shirt und Hose, auch ganz ohne Tasche, gepäcklose Menschen mitten in der Stadt ohne erkennbaren Aufenthaltszweck, da, in der Kleeblattschlinge in der Dämmerung. Am Rande der Fahrbahn ein recht breiter Zweiradstreifen, wie fast überall, der von Fahrrädern und Motorrädern benützt wurde. Kleine Leihfahrräder in knallgelb und knallblau, Legobikes, Mountainbikes, urbane Klappräder à la Brompton. Viele E-Motorroller, Erwachsene mit Kindern drauf, nicht diese Nepal- oder Vietnam-Bilder mit den ganzen Familien auf einem Roller, nicht diese Wien-Bilder mit der einen Person pro Fahrgerät. Manchmal fuhr jemand gegen die vorgesehene Richtung, da, auf der Zweiradspur, aber das schien niemanden zu stören. Es schien überhaupt ein Raum zu sein, da, zwischen den Spuren, wo niemanden etwas störte an der Bewegung der anderen, man bewegte sich einfach, ohne sich an etwas zu stören, ohne etwas zu genießen. Ich bemerkte dort keine Überwachungskameras, aber es kann sein, dass ich sie einfach nicht mehr sah; es gab ja so viele in der Stadt, dass sie zu bemerken nicht mehr angemessen zu sein schien.