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- 6 April 2025, 18:26 - katatonik

Sonatas and Interludes

Das Hotel lag in der Frankfurter Bahnhofsgegend, wo das Museum nicht lag. Das Museum lag in der rekonstruierten Neuen Altstadt, ein weithin gerühmter 150m-Langbau aus den 1980er Jahren, der sich jetzt ein Performance-Festival im ausnahmsweise hellen Galeriesaal gönnt, bevor zu Renovierungs- und Umbauzwecken für zwei, drei Jahre geschlossen wird. Die Eintrittsschlange samstags gegen 13 Uhr reichte ein Stockwerk hinab and then some. Das war schon, äh, interaktiver Teil der Performances, konkret bedingt durch Annika Ströms “Seven Women Standing in the Way”, zu dem es die folgende Anleitung gab:

“They should be above 65 years old.

They should not be dressed too formally. They should be wearing their coats or jackets and appear to be members of the audience.

They should be dressed casually and not be wearing high heels, as they will have to stand most of the time.

Whilst they are standing in the way, they should never appear aggressive, but simply ocivious to the fact that they are standing in the way. They should be completely oblivious to people around them.

They should be preoccupied with each other only, and the conversation they are having with each other.

If people want to pass, they should not give way at first, not until they appear to become aware that someone wants to pass, then they can make way, but they must never be aggressive about it.

They should stand together all the time, chatting and drinking. They can be loud, but they shouldn’t be too noisy, nor should they seek attention.

The performance should be very subtle. They should be standing all the time, but rest if they need to. However, when they do rest, they should all rest together.

If anyone asks them anything they should ignore the question, but if someone insists, they should reveal that they are a part of the show and that they are

The Seven Women Standing in the Way.”

Am schmalen Eingang in die Galerieräumlichkeiten standen also tatsächlich einige weißhaarige Damen, und sie verhielten sich tatsächlich den Richtlinien entsprechend, auf recht ruhige, lächelnde Weise. Die Besucher*innen schlängelten sich recht entspannt und langsam zwischen ihnen durch (wer von ihnen ahnte, wußte?). Erst nachdem ich den Text innen an der Galeriewand entdeckt hatte, formte sich dieses kurze, beiläufige Erlebnis zu einer Kunsterfahrung.

Ähnlich im Ansatz auch Alija Wysockas Performance “Hide and Seek” etwas später. Hier spielte eine Gruppe fröhlicher, bunt gekleideter Frauen aus der Ukraine, mittleren und höheren Alters, im Ausstellungsareal inmitten der anwachsenden Besucher*innenschar Verstecken. Sie liefen hin und her, versteckten sich hinter Menschen, Mauerwerk und Türen, und wenn die Suchende das Leo — ein an die Wand gekritzeltes Kreuz — verlassen hatte, rannten die Versteckten darauf zu und tappten dort jauchzend ab. Auch das ein Spiel mit Frauenkörpern, die etwas Gesellschaftliches, etwas Politisches, etwas Geopolitisches, wofür sie standen, in ein Raumszenario übersetzt darstellten, dadurch die anderen Anwesenden fordernd, in deren Rolle als Betrachter und Kontext zugleich.

Rundherum bewegten sich Personen in weißen Schutzanzügen, die als Teil von Norma Jeanes “Antibodies” in der Galerie überall Staub aufkehrten und aufsammelten. Dies taten sie nicht nur aktuell, denn da lag bereits ein offenbar über Monate hinweg gesammelter, recht beeindruckender Wollmäusehaufen von skulpturaler Anmutung (die Schirn hat im übrigen sehr schöne Holzbesen und -bartwische, auf denen groß “SCHIRN” steht). Man konnte sich fast als Virus fühlen, auf das die kehrenden Antikörper angesetzt wurden (der Staub ist ja schließlich auch Besucherstaub), als kleines bewegliches Störelement in einem multisystemischen Organismus.

In Ana Prvačkis “Tent, Quartet, Bows and Elbows” (Link mit Video), das bereits 2007 aufgeführt worden war, spielte ein Streichquartett prononciert Atonales in einem geschlossenen weißen Zelt inmitten des Galerieraums. Die Zuschauer*innen hatten sich vor Beginn auf bereitgestellten Papphockern um das Zelt gruppiert, dahinter standen gedrängt die, die keine Hocker mehr ergattert hatten. Eine Museumsmitarbeiterin brach die Konstellation geschickt auf, indem sie erstens darauf hinwies, dass dies eine zu ergehende, zu umgehende architektonische Performance sei, und dies zweitens gleich selbst zu performieren begann. Bald umrundeten mehrere das Zelt. Und immer, wenn eine länger stehenblieb, um einen Ellenbogen oder einen Instrumententeil, der gerade besonders rhythmisch herausragte, zu filmen, lief die Museumsmitarbeiterin stracks durch Bild und verdarb klug das Aufnehmen, das lähmend wirkte. Viele schätzten vor allem die an einer Ecke durch den Stoff sichtbare rechte Schulter einer Streicherin, über die konturierend schwarzes langes Haar fiel. Das ruckartige Spiel der Ellbogen an den Bögen sorgte für schön anzusehende Ausbuchtungen, das Zelt zuckte und wogte. Es muß da drin recht heiß geworden sein. Begeisterter, lachender Applaus am Ende.

Weit weniger verschmitzt Isaac Chong Wais Falling Reversely. Fünf offenbar professionell ausgebildete Tänzer*innen in Straßenkleidung vollführten Bewegungen, in deren Zentrum die Umkehr des Fallens stand, “as a powerful response to institutional violence and assaults against individurals of Asian descent”. Bemerkenswerte Körperstudien über das Fallen und Geworfenwerden, das Aufstehen, Aufspringen und Hochgezogenwerden (von nicht sichbaren Kräften), aber auch das Einander-Halten, -Heben und -Tragen, den Gewinn von Solidarität in einer Situation der Bedrohung.

Der kleine ca. Zweijährige im Skelett-Shirt, der am einen Ende der Performancefläche (viele Zuschauende saßen am Boden) mit einem Schlüsselbund und seinem leeren Trinkbrecher am Boden trommelte, bot der Szene Kontrast, die trotz der vielen Bewegung eine starre Gestimmtheit transportierte, vor allem durch ernsthafte Mienen und starre Blicke (mir kam der Verdacht, dass sehr gute Tänzer*innen nicht eo ipso geeignete Schauspieler*innen wären). Kontrast bot auch das Paar, das mir gegenüber saß: sie, mit braunen langen Haaren und offenem Gesicht am Papphocker mit gespreizten Beinen, er, hoher Haaransatz und fuchsfarbene Bartstoppel, am Boden dazwischen, sie berührten einander immer und immer wieder etwas mehr. Sie flüsterte ihm Dinge ins Ohr, die ihn glücklich lächeln ließen.

Ein Höhepunkt die Performance von Lenio Kaklea, “Sonatas und Interludes”, abends, eine Aufführung von und Auseinandersetzung mit John Cages so benannten Kompositionen. Das Klavier stand bereits den ganzen Tag präpariert in der Gegend herum. Orlando Bass spielte; er zeigte sich als nicht gefälliger, dicklicher Körper, in wohl bewußt zu eng gewählter Kleidung, schwarzer Hose, weißes T-Shirt, weiße Socken, keine Schuhe. Rückenhaar, das sich leicht pelzig über dem Halsausschnitt zeigte, schütteres Haupthaar, Nerdbrille. (Viel ungeglätteter als die Bilder auf seiner Website also.) Lenio Kaklea erschien in einem schwarzen Lederanzug mit Beplattung an Rücken, Ellbogen und Knien, was ihr eine leicht insektenartige Anmutung verlieh. Eine kraftvolle, strenge und grazile Erscheinung.

Die “Sonatas and Interludes” wurden zwischen 1946 und 1948 komponiert, als Ausdruck der rasa der indischen Ästhetik (mit der Cage wohl über die indische Musikerin Gita Sarabhai und das Werk von Ananda Coomaraswamy bekannt wurde; Wikipedia sagt Einiges dazu). Kaklea, so erzählt sie, wäre mit einer Choreografie zu Cages Komposition beauftragt worden, was sie anfänglich abgelehnt hätte, es wäre wirklich nicht ihre Art von Musik gewesen, sagt sie mit “alter weißer Mann”-Vibes in der Stimme.

Dann hätte sie recherchiert und wäre auf Verbindungen der “Sonatas und Interludes” und Cages generell zum Tanz gestoßen. (Zu den Verbindungen zu indischer Ästhetik sagt sie nichts.) Cage hätte immer wieder mit Choreografinnen gearbeitet, zumeist “racial ones” (Syvilla Fort, Pearl Primus, Valerie Bettis, Hanya Holm ). Sein erstes Stück für präpariertes Klavier, Bacchanale, entstand 1938—1940, als ihn die afroamerikanische Choreographin Syvilla Fort (1917—1975) um afrikanisch “inflektierte” Begleitmusik zu einer ihrer Choreographien bat (beide waren an der Cornish School beschäftigt). Die Methode der Präparierung des Klaviers durch Anbringung verschiedener Objekte zwischen den Saiten war den beengten räumlichen Verhältnissen im avisierten Aufführungsraum geschuldet, da Cage ein Stück für ein Perkussionsensemble schreiben wollte, wofür aber schlicht zu wenig Platz war (Quelle). Kaklea, so führt sie aus, wolle die weniger beachtete Dimension von Cage, seine Zusammenarbeit mit afroamerikanischen Choreografinnen, beleuchten, bearbeiten. “John Cage’s music will be in my service today” sagt sie, bestimmt, mit einem Unterton von abschätzigem Zorn. Den Beginn der Choreografie sieht man übrigens hier, aus 2023.

Die Choreografie zu den von Bass sehr souverän, aber auch eigenwillig gespielten “Sonatas and Interludes” (die Fünfer, die ich besonders gerne mag, erkannte ich kaum wieder) verhält sich dann zur Komposition auch immer wieder leicht bis offensiv mokierend, trotzig und rotzig. Dabei ist es, denke ich, schwierig, sich diese Art von Musik als Tänzerin zur Begleitung zu machen, weil sie sich mit ihrer besonderen Tonalität so in den Vordergrund drängt, dass Bewegungen, zumal so phrasierte, abgehackte wie jene Kakleas, umgekehrt leicht zur Begleitung der Komposition werden und ihr gegenüber untergeordnet wirken — wogegen Kaklea ja gerade rebelliert. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, glaube ich fast, sie hat auch mit dieser Unmöglichkeit gespielt, wollte sie zeigen, ein Ringen der Bewegung mit der Musik vorführen. Dazu passt auch der Insektenkörper.

Trotzig und rotzig: Sie kriecht auf eine Videokamera zu, die an einer Ecke der Aufführungsfläche am Boden positioniert ist, schaltet sie ein, ihr Gesicht erscheint groß auf die Wand projiziert. Sie schneidet Grimassen, ein freches fuck you der Musik gegenüber aus jeder ihrer riesig sichtbaren Schweißperlen.

Ihr Körper spielt sich dort dann ganz in den Vordergrund, wo er sich auf Motive der Präsenz weiblicher Körper in Kultur, Tanz und Film generell bezieht: das Ballett, in Figuren noch im ledrigen Insektenkampfanzer stets eckig geratend, der Striptease, der Stück für Stück verteilt über das ganze Stück stattfindet. Sie ist dabei sehr spielerisch, läßt unter den schwarzen Lederteilen den knallroten Leotard aufblitzen, zieht die gern verrutschende Lederhose trotzig über ihr rot glänzendes Gesäß wieder hoch, bevor sie sie irgendwann ganz abstößt.

Auch mit Orlando Bass wird gespielt. Kaklea zieht an Schnüren die Videokamera vom Rand in die Mitte, hin zum Klavier, bis ein Bild seiner weißen Socken (auf den Klavierpedalen) riesengroß an der Wand erscheint und den Rest der Performance begleitet. Die zunehmende Nacktheit der Frau zu den riesigen weißen Socken des weißen Pianisten, das ist stimmig. Noch im Leotard mit schwarzen Schienbeinschützern legt sie sich auf den Rücken unter die Klavierbank, ihren Blick ruhig und unverwandt dorthin gerichtet, wo man das Gemächt des Pianisten vermuten darf, durch die Sitzfläche ihrem Blick verborgen. Das Spiel läuft eine Zeit vom Band weiter, beide stehen auf, es folgen gemeinsame Bewegungen, bei denen sie seine Kreise stört, der weiche Körper des Pianisten und der muskulöse Körper der Tänzerin, sie stellen etwas dar und sind gleichzeitig, das spürt man, miteinander als Künstler*innen vertraut.

Dann, später, zieht sie auch den Leotard noch aus. Erst zeigt sie uns mit einer Geste des Stolzes und der Anklage zugleich ihre nackten Brüste (eine Aufforderung hinzusehen bei gleichzeitiger Gnackwatsche für unseren Voyeurismus). Dann ist sie nur noch mit einer glänzenden hautfarbenen Strumpfhose bekleidet, unter der sich in ihrem Schritt der dunkle Schatten von Schamhaaren zeigt, den sie diskret durch gekreuzte Beine verbirgt, sich im Zustand der fast vollkommenen Nacktheit gegenüber dem Publikum auf eine berührende Verletzlichkeit zurückziehend. Ich mochte, wie sie es zustande brachte, in ein- und derselben Geste, Position oder Bewegung mehrere Impulse auszudrücken, das schien mir zu den Sonatas and Interludes denn auch sehr passend. Es kam dann noch zu einem Negroni Sbagliato und, irgendwo in der Frankfurter Innenstadt, dem besten Ayran meines bisherigen Lebens.

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- 30 March 2025, 17:57 - katatonik

Weird and radical projects

(Mainz, Frankfurt, 26.-30.3. Soundempfehlung: Warp Bleep Era Tribute Mix)

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- 17 March 2025, 20:37 - katatonik

Die kurzen Momente, in denen du schwebst

Im “Heimatsaal” im Volkskundemuseum, der nicht erst seit der neuen, einschlägig politisch verorteten steirischen Landesregierung so heißt (Graz hat eine kommunistische Bürgermeisterin), erzählt Suzanne Ciani im Gespräch mit Shilla Strelka von ihrer Musik und ihrer Laufbahn. Man kann das Gespräch auch nachhören. Es ist ein sehr angenehmes Gespräch; Ciani spricht ruhig, gewählt, überlegt.

Sie spricht viel von ihrem Instrument, dem Buchla, von dessen Veränderung seit den 1970er Jahren, von Don Buchla, den sie als Erfinder und Konstrukteur dieses modular electronic music instrument preist (er hätte das Wort “synthesizer” gehasst), auch wenn er sie persönlich als junge Frau erst einmal sofort rauswerfen wollte, als sie bei ihm zu arbeiten begann. Ein evil genius, sagt sie. Sie erzählt von Kalifornien in den 1970er Jahren als Umgebung für Musik, als politisierte Umgebung. Sie spricht von ihrem Zugang zu Musik, der im wesentlichen ein emotionaler wäre, von einer Reaktion auf eine damals empfundene Überkomplexität akademischen Komponierens. Reaktion, Konfrontation: auch ihre, als Frau, die komponieren will, auf Kompositionslehrer, die Frauen die Fähigkeit zur Komposition absprechen, weil sie nichts Langes komponieren könnten. Sie spricht demgegenüber von ihrer Faszination am microcosm of sound, davon, dass für sie eine Komposition einer Drittelsekunde (Telefonton) durchaus Anfang, Mitte und Ende haben könne.

Sie spricht von elektronischen Instrumenten, davon, wie sie erfordern, dass du Klänge analysierst, auseinandernimmst, zu etwas zusammensetzt. Für sie: eine Poesie. Auch: eine Sicherheit, die dir die Maschine, der Synthesizer gab, Langsamkeit zu können, das hätten Menschen eben einfach nicht gekonnt. Die Schwierigkeit, Geld für ihr erstes Album aufzutreiben (there were no albums from female composers), so kam sie dazu, Klänge für Werbespots zu produzieren. Der berühmte Coca-Cola-Ton bewusst unmelodisch, da sie einen Klang wollte, den die Firma nicht nur in einem besonderen Spot einsetzen konnte — von einem universell einsetzbaren Klang erhoffte sie sich schlicht höhrere Einkünfte, die Finanzierung ihres Albums, das dann letztlich in Japan erschien.

Der Umgang mit der Maschine, die regelgeleitet ist, in Form von Kenntnis erfordernden Anweisungen; das Interessante beginnt dort, wo Zufälligkeit entsteht. randomness. Die Unvorhersehbarkeit der Maschine, an der sie auch nach so vielen Jahrzehnten noch Neues entdecken, kennenlernen würde. Sie spricht von buchlaistic techniques, ähnlich, wie es pianistic oder violinistic techniques gäbe. Die Steuerung des Buchla über “voltages”. Sie hatte füher den 200er gespielt, ihre Rückkehr brachte sie zum 200 E, mit dem sie plötzlich Dinge nicht mehr tun konnte, die früher möglich waren. Mehrfach betont sie, technologische Entwicklung würde nicht alles zum Besseren wenden; es würden auch Möglichkeiten verlorgen gehen. Ausführungen über Klang, Musik und Raum, das Verhältnis zwischen dem Design eines elektronischen Instruments und seiner kreativen Verwendung. Das Design von Eurorack-Synthesizern (keine Lichter ursprünglich, also kein Feedback-Mechanismus; alles viel zu klein für Menschen mit größeren Händen). Sie steht auf die Animoog-App. Die Wichtigkeit der Performanz. Instrumente müssten unter dem Aspekt der performability gestaltet werden, denkt sie.

Der Grazer Schloßberg ist durchlöchert. “Schloßbergstollen” nennt man das. Ein erster kurzer Stollen wurde 1937 errichtet, motiviert durch den Wunsch nach Luftschutzbunkern. Das heute existierende Raum- und Tunnelsystem mit insgesamt 6.300 Metern Stollen und ursprünglich 20 Eingängen geht auf eine nationalsozialistische Großinitiative 1943 zurück (Wehrmacht, Häftlinge, Kriegsgefangene). Sprengungen, Grabungen, das Aushubmaterial in die Mur geschüttet. Fast zwei Wochen nach meinem Ausflug nach Graz treffe ich E., fast 90, der in Graz aufgewachsen ist und den Schloßberg fest aus Angstsituationen in Erinnerung hat, immer die Bomben im Ohr, wenn er später dazu kam, sich dem touristisch entwickelten Berg zu nähern.

Seit Kriegsende ein unüberblickbarer Diskussionsprozeß über die Nutzung des Berges, utopische Tiefgaragenprojekte der 1960er und 1970er Jahre, Architekturvisionen, Museumspläne, 1999 dann in wenigen Tagen Sprengungen von 6.000 Kubikmeter Gestein zur Errichtung der Veranstaltungshalle “Dom im Berg”. Auch aus den frühen 2000er Jahren stammt der Lift, der vom Schloßbergstollen zum Uhrturm führt. Es gibt ein (geschlossenes) Montan- und Werksbahnmuseum, es gibt eine Märchenbahn. Es gibt eine Rutsche, die als Metallschlauch gewunden durch den Schacht bergab führt, der auch den Aufzug beherbergt.

Ein Tunnel mit felsig belassenen Wänden führt von der etwas höher gelegenen Innenstadt durch den Berg zum Murufer (Murufer ist ein großartiges Wort). Man geht auf leicht abschüssigen Metallgittern, bei schummrig rosa Licht mit Geisterbahnfaktor. Abzweigungen führen zu vom Weg aus einsehbaren Nischenräumen (ursprünglich gewiß Luftschutzbunker) mit verglasten Eingängen, dort gerade Lichtartefakte sichtbar im Rahmen einer Festival-Ausstellung. Über den Märchenbahnstollen gelant man zum Schloßberglift (genau gesagt zwei Lifte nebeneinander). Suzanne Cianis Soundinstallation in der gläsernen Liftkabine ist ein kleines, pulsierendes Musikfragment, das die Fahrt durch den Berg begleitet, vorbei an den Rutschenschlingen. Sie hat dafür ein älteres Stück auf dem frühen Buchla gewählt, in dem das Instrument singt, das Instrument als Verwandter des Lifts, sie sind Teil derselben Familie; ein Stück für die kurzen Momente, in denen du schwebst.

Die Kombüse im Stadtpark: ein Rundpavillon, darin eine Bar mit kleiner Tanzfläche, in das eine Eck der Bar ein recht gemütlich wirkendes DJ-Eck, wo an diesem Tag zwei junge Männer tätig sind. Guter, gemütlich treibender Sound. Schummrigkeit, die meisten Gäste stehen vor der Tür und rauchen. Pommes frites werden zubereitet und serviert. Ein gemütlich treibender Wohlfühlort. Nachts durch den Stadtpark spaziert, erst da die Erinnerung: Es muß ziemlich genau vor vierzig Jahren gewesen sein, in familienentfernten Osterferien in Graz, Herumlungern im Stadtpark, so, wie zu jener Zeit in Wien im Burggarten herumgelungert wurde, mit Tagen ohne Ziel und Gesprächen ohne Zweck. Eine Form des Driftens, wenn auch nicht die, die ich am reizvollsten fand.

Später, vor Cianis Konzert gegen zehn, gehe ich den Weg durch den Tunnel noch einmal, komme hinter drei jungen Männern zu stehen, von denen einer die beiden anderen fotografiert, die etwas weiter entfernt im Tunnel Spaß haben. Er dirigiert sie, auf Englisch, fordert sie auf, sich zu küssen, das könnten sie ja so schön. Da bemerkt mich einer der beiden hinter dem Fotografen stehen und bedeutet ihm, mich vorbeizulassen. Ich winke ab, “no, don’t mind me, I find this very entertaining”. Daraufhin wollen sie ein Foto mit mir, der eine kniet sich theatralisch vor mich hin und überreicht mir eine Plastikblume, ich meinerseits halte theatralisch meine Hand ans Herz, Foto. Wir haben Spaß. Die Plastikblume darf ich behalten, sie wird später in der Hektik der Garderobenhandhabung diskret aus meiner Jackentasche verschwinden.

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- 23 February 2025, 19:49 - katatonik

Männergenerationen, am Land

Die Eltern hatten aus rein pragmatischen Gründen geheiratet. Der Vater hatte einen Wagnerbetrieb, den er dem jungen Mann aus dem Nachbardorf versprach, wenn er seine Tochter heiraten würde. So geschah es. Das Haus war klein, mitten im Dorf, nahe der Kirche, wo sich ein Bauernhof an den anderen drängte. Eine große Küche, später mit Schwarzweißfernseher oben an der Wand in der Ecke, ein Zimmer für die beiden Söhne rechts, das Elternschlafzimmer links, WC und Bad draußen im Flur, immerhin abgetrennt, vom Flur aus der Eingang in ein weiteres Zimmer, für ihre Mutter, die dort immer saß und dann später lag, krank, länger. Ein kleiner Stall mit drei Kühen und ein paar Schweinen, eine Scheune für Heu und Stroh, ein Werkstattgebäude, ein Holzschuppen für Brennholz, ein Keller, in dem der angeheiratete Wagner gerne ein Bier trank — so erzählte es B., die Enkelin, die später gern mit ihm in den Keller ging, denn für sie gab es immer eine Schartner Bombe.

Die beiden Söhne des Schartner-Bombe-Opas, nennen wir sie A. und M., absolvierten Handwerkslehren, in ziemlich weit entfernten Städten, aber im selben Bundesland. So wurden sie schon früh zu Wochenendpendlern, die damals, in den 1970er Jahren, gut vier Stunden für die rund 130 Kilometer brauchten, weil die öffentlichen Verkehrsmittel miserabel waren. Der Vater baute den Wagnerbetrieb geschickt aus und erweiterte ihn um die Zimmerei. Er baute Jägerzäune und erfand und baute eine eigene Maschine, mit der die Stämme für die Sprossen in Form geschnitten wurden. Diese Automatisierung brachte ihm viel an Arbeitsersparnis und wohl auch mehr Geld. Der Schwerpunkt des Betriebes verlagerte sich in Richtung Holz.

A., der jüngere der beiden Söhne, der eigentlich Mechaniker gelernt hatte, sattelte auf Tischler um. Möbeltischler; wenn er von Wien spricht, erzählt er immer wieder von Aufträgen, die er auch dort hatte, gut 150 Kilometer vom Dorf entfernt. Später, als ich nicht mehr dort wohnte, bauten A. und seine Frau ein neues, großes Haus, unweit des Elternhauses im Dorf, das ebenfalls umgebaut und erweitert wurde. Heute hat A. eine Photovoltaikanlage auf dem Dach. Er fährt mit einer “Elektroschüssel” und verdient im Sommer ein paar Tausend Euro mit der Einspeisung von Strom. Aber amortisieren würde sich das nicht, sagt der kritische Mann von der B., die A.s Nichte ist. A. lächelt – er lächelt so leise und verschmitzt wie sein Vater -, “a bisserl a Idealismus g’heat scho dazua”. Außerdem würde man für so viel Blödsinn Geld raushauen, da könnte man doch auch was für was G’scheit’s ausgeben. A. und sein Bruder M. lernten früh Autofahren und hatten dann auch bald Autos. Der Vater machte zeitgleich mit M. den Führerschein, da war er schon 40, Mitte der 1970er Jahre.

Erst dann wurde die Familie etwas mobiler. Reisen, das kannten sie vorher nicht und haben es sich auch nie so recht angewöhnt. Die Mutter arbeitete als Haushälterin bei meinem Vater, mehr als 20 Jahre lang. A. und M. haben beide in ihrer Jugend kleine Jobs für meine Eltern gemacht, Telefondienst, Rasen mähen und so weiter. Für mich ist die soziale und wirtschaftliche Hierarchie, die dieser Beziehung zugrunde liegt, unangenehm, trotz oder vielleicht gerade wegen all der Herzlichkeit, die ich von dieser Familie immer erfahren habe. Ich war oft bei ihnen zu Gast, übernachtete, wenn meine Eltern für einen Abend ausgingen, war dort manchmal auch für einige Wochen, wenn meine Eltern reisten. Es war anders dort.

Es gab abends grobe Wurst oder Speck und Brot und Ketchup, auf dünnen Resopal-Schneidbrettern, oder Stossuppe, eine einfache Suppe aus Wasser, Sauermilch, Mehl und Kümmel, mit Brotstücken und Kartoffeln drin. Wie man sich wusch, in einem Lavoir in der Küche, mit begrenzten Mengen warmen Wassers, die Füße und die sichtbaren Teile des Körpers. Der Vater hatte sein eigenes Fußbadewasser, das immer pechschwarz wurde, die Mutter und ich teilten das Fußbadewasser, sowas gab es bei uns zu Hause nicht. Wir hatten eine kleine Küche, ein abgetrenntes Wohnzimmer, da bot es sich schon räumlich nicht an, beim Fernsehen die Füße zu baden.

Die Feldarbeit, zu der sie mich oft mitnahmen, war für mich ein Abenteuer, das Sitzen auf dem Traktor, auf dem Kotflügel, das Festhalten an den metallenen Geländern, das Rütteln, wie die Haut an den Händen weich und warm wurde von den vibrierenden Geländern. Sie hätten mich ja einmal versehentlich vom (stehenden) Anhänger gestoßen, gestehen A. und M., sie hätten da eine größere Ladung Heu raufgeschaufelt, und ich kleiner G’steamel sei einfach hinten runtergefallen. Da hätten sie sich schon große Sorgen gemacht, ob mir was passiert sei (war es nicht). Daran erinnere ich mich nicht, wohl aber an den grünen Schnürlsamthut des Vaters, an seine billigen, starken Zigaretten der Marke “Hobby”, an denen ich als Kind den einen oder anderen Zug nehmen durfte, so wie ich den einen oder anderen Schluck Bier bekam. Heimlich natürlich. Er war ein ruhiger Mann, ein oft müder Mann, ein zarter Mann, der auffiel in einem Ort, in einer Zeit, wo die Männer so laut waren. Er trank nicht so viel. Das eine Bier im Keller.

A. und M., sie drücken heute Dankbarkeit aus, weil ihnen die kleinen Jobs für meine Eltern Dinge ermöglicht hätten, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. Sie seien auch dankbar dafür, dass meine Mutter sie mitgenommen hat, wenn es ins weiter entfernte Hallenbad ging oder zum ebenfalls weiter entfernten Skilift, zu einem Tagesausflug. (Mir bleibt das trotzdem unangenehm.) A. und M. blieben beide im Ort, mit Frauen, die aus anderen Orten zu ihnen zogen. Es waren keine pragmatischen Ehen mehr. M. arbeitete als LKW- und Baggerfahrer für Firmen anderswo und war über lange Zeit Wochenendpendler (mit eigenem Auto). Kinder wurden geboren. So, wie es Fotos von A. und M. gibt, die sie als Teenager mit mir als Baby oder Kleinkind zeigen, so gibt es von mir Fotos, auf denen ich als Teenager B., die Tochter von M., als Baby halte.

Einer von A.s Söhnen hat den Tischlereibetrieb von A. übernommen. Andere der Kinder sind weggezogen. Es gibt viele Enkelkinder. Es gab Scheidungen bei A. und M. und neue Beziehungen mit dann quasi adoptierten Enkelkindern. B., die mit einem Mann aus dem Ort zusammenkam und mit ihm heute woanders lebt, erzählt von Flugreisen, Hamburg, Stockholm, auch Thailand. A. erzählt von Bergen und Seen im Salzburger Land. Er würde gern wohin fahren oder gehen, wo niemand ist, und sich dort einfach hinsetzen, eine halbe Stunde oder länger. Er würde da gerne auf den einen Berg gehen, da war er oft, aber jetzt mit dem vierjährigen Enkerl, naja, des geht grad ned so. Es ist vielleicht auch das Alter, dessentwegen es ned mehr so geht, aber darüber sprechen wir nicht.

Wir reden über Essen in asiatischen Ländern, Streetfood in Thailand, rohen Fisch in Japan, der Witz mit den Leberkässemmerln als österreichisches Sushi schwebt über dem lachenden Wirtshaustisch (A. und M.: Tafelspitz, B.s Mann: Beef Tartar, B. und ich: Lachsforelle). Das Höchste für das Enkerl, erzählt A. mit einem unglaublich zarten Lächeln und strahlenden Augen, sei es, mit ihm, dem Opa, frühstücken zu gehen. Um sechs Uhr morgens gingen sie dann durch das ganze Dorf zur Tankstelle am Ortseingang, die schon immer eine Art Gemischtwarenladen war, und dort wolle er, das Enkerl, zu seinem Semmerl eine einzige, eine dünne Scheibe Leberkäs.

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- 16 February 2025, 06:21 - katatonik

Nie weit weg, aber doch immer woanders

Ein Lokal in Döbling, das in Hamburg war, an einer Bahntrasse, in die S-Bahn-Station eingebaut. Das ziegelige Gebäude ging endlos nach oben, mit Nischen voller gotischer Gnome. Weiter herunten, in Reichweite, hatte jemand spaßhalber so Witz-Insignien des Gruselns hinzugefügt. Totenköpfe, stilisierte Spinnweben. Das Lokal, das eher ein Trinklokal war, wurde von älteren Damen geführt, die ihre Gäste leicht übersahen. Eine bot zum Mineralwasser, das ich bestellte, selbst gemachten Kuchen an, der grün war, eine Art Malakofftorte aus Grünsein. Eine Wohnung, in der viel herumlag. Sie war meine, aber ich wohnte nicht mehr da, und war gleichzeitig die einer älteren Verwandten, die auch nicht mehr da wohnte. T-Shirts in fifty shades of purple.

Ich hatte immer genau noch eine Viertelstunde Zeit, bevor ich gehen mußte, bis ich gehen mußte, um wenigstens nur eine Viertelstunde zu spät zur Nachhilfestunde zu kommen, die ich geben sollte. Ich traf einen, den ich erst später treffen wollte, aber wir trafen uns schon jetzt, kurz, weil wir uns lange nicht gesehen hatten. Er war nie weit weg, aber doch immer woanders, führte kurz ein Gespräch mit einem älteren Mann im Lokal, das weniger ein Gespräch war, es bestand eigentlich darin, dass sie abwechselnd Striche in eine bunte Zeitschrift setzten. Räume in der Wohnung erkundend, die endlos viele Räume und schlecht schließende bzw. sich schlecht öffnende Türen hatte. Der zarte Geruch von Schweiß ohne Anstrengung. (aufgew.)

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- 20 January 2025, 08:17 - katatonik

Atmosphären

Auf den Titelblättern der Zeitungen das Foto eines Mannes im mittleren Alter, etwas dünklere Haut, eine Warnung vor ihm, er sei gefährlich, große Gefahr ginge von ihm aus, explosive Gefahr.

Ich befand mich in einer Situation, in der Gäste erwartet wurden, war nicht die Gastgeberin, aber gehörte zu den lokal Ansässigen, zu jenen, die gegenüber einem Gefahrenpotenzial dann doch etwas stärkere Involviertheit spüren als Angereiste. Einige der Gäste waren bereits da, und es war in der begleitenden Metareflexionsspur völlig klar, dass der, von dem Gefahr ausginge, zu uns kommen würde, mitgebracht als Mitgast eines Gastes, so würde es kommen, wie denn auch anders.

So war es dann auch, es war natürlich J., ein umtriebiger Kollege aus einem anderen Land, der viele kannte, immer so interessante Leute dabei, der J. also, er brachte den mit. Ich sah das kommen, sah vom Fenster aus, wie sie auf der Straße näher kamen, der J. und der Typ. Ich wusste, wie die Situation sich wie in einem Filmdrehbuch weiter abrollen würde, fand mein Telefon nicht, um einen Notruf abzusetzen, nun, so würden die Dinge eben ihren Lauf nehmen.

Der Mitgast erwies sich dann als eloquenter und freundlicher Herr, man sprach so vor sich hin, und bald drehte sich die Situation, Zweifel kamen daran auf, dass diejenigen, die in ihm ein Gefahrenpotenzial sahen, recht hatten. Die Atmosphäre wurde dann eine, in der man ihn, den Mitgast, vor Behörden versteckte, in einer Allgemeinlage, in der überall etwas vor Behörden gerechtfertigt und versteckt werden musste. Dunkle Räume, die keine Räume waren, sondern sich in eine dunkle Atmosphäre hinein öffneten. An einem Tisch saß Helmut Qualtinger und musste einer Autoritätsperson gegenüber seine ungebührlich hohe Anzahl von 55 Fehltagen begründen, was ihm, alkoholisiert lallend, schwerfiel. (aufgew.)

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- 12 January 2025, 16:45 - katatonik

Der viel gefiederte Muskel

Der Physioknecht hatte das ganze Übungsprogramm noch einmal mit mir duchgesprochen; es war unser letzter Termin. Die Symptomatik, die ich ihm schildertee, würde eindeutig auf Instabilitäten hinweisen, die man nur bedingt, aber doch bis zu einem gewissen Grad in den Griff kriegen könne, durch Alltagsanpassung, Kraft-Ausdauertraining und verbesserte Koordination. Der Musculus multifidus, der viel gefiederte Muskel, zum Beispiel, wäre für die Stabilität der Wirbelsäule außerordentlich wichtig; er zieht sich tief drin an der Wirbelsäule entlang. Man müsse ihn trainieren, das könne man aber nicht direkt, sondern nur indirekt durch Koordinations- und Balanceübungen. Tandemstand, zum Beispiel, und wenn du den einigermaßen kannst, dann verschärfen, zum Beispiel durch Drehen und Wenden des Kopfes, und wenn du das draufhast, mach’s mit geschlossenen Augen. Ich bräuchte viel Geduld und Durchhaltevermögen, meinte der Physioknecht, aber ich wäre am richtigen Weg.

Die MS Vindobona ist ein Ausflugsschiff der DDSG Blue Danube, seit 1995 die Nachfolgegesellschaft der Ersten Donau Dampfschifffahrts Gesellschaft in der Personenschifffahrt. Das Schiff wird auf deren Website für seine außergewöhnliche Innenausstattung im Hundertwasser-Design angepriesen. Man kann sich dort auch ein 360°-Panorama reinziehen. Das Design hat eine recht angenehme Retro-Anmutung, eine Zeitkapsel, inklusive Zigarettenautomat mit Schillingpreisen.

Die Internetplattform Klingt.org für experimentelle Musik und Kunst hatte die geniale Idee, den ersten Teil der Feier ihres 25jährigen Bestehens auf der MS Vindobona abzuhalten. Also, wahrscheinlich gebührt die Ehre für die geniale Idee genau genommen Dieter Kovačič (dieb13), der Klingt.org initiierte und betreibt (den mit dem Wienerischen nicht Vertrauten sei noch erklärt, dass “org” auf Wienerisch “arg” heißt, hier eher im Sinne von “merkwürdig, verrückt, außergewöhnlich”, sagen wir einfach: weird).

Über knapp drei Stunden sollte die MS Vindobona von der Anlegestelle Reichsbrücke aus erst südwärts zum Kraftwerk Freudenau schippern, dann nordwärts bis nach Nußdorf und von dort wieder südwärts zur Reichsbrücke. Es gab zur Einstimmung am Achterdeck (so sagt man, glaube ich) eine klangliche Intervention von Beauchamp & Geissler, begleitet von eisigem Winterwind, dem Rauschen der graubraunen Donauwellen am Schiff und aufgeregtem Ausflugsgeplappere der vielen Gäste, eine schöne Menge an halb Bekannten und anderen freundlichen Wesen verschiedenster Altersstufen; manche hatten auch Kinder dabei. Im Vorfeld war klargestellt worden, es würde für die drei Stunden kein Essenscatering an Bord geben, nur Getränke (von ausnehmend aufmerksamen Ausflugsschiffkellnern an die Tische serviert). An den Tischen in Ober- und Unterdeck saßen dann die Kids, malten und zeichneten und spielten und knabberten Zeug aus mitgebrachten Tupperwaredosen. Ein Bub, geschätzt unter fünf, trug einen sehr kleidsamen türkisen Gehörschutz mit Elefantenlogo drauf (Schallwerk), während er — da spielten dann Bulbul ordentlich auf, am Bug des Unterdecks, innen — energisch mit seinen Farbstiften rote Flächen schraffierte.

Als wir also südwärts schipperten, mit Tee und Kaffee, Bier und Wein versorgt, begann Susanna Gartmayer mit ihrer Bassklarinette durch den Gang am Oberdeck zu gehen, das Instrument dröhnend, schmeichelnd, vibrierend, eskalierend, klappernd. Auf und ab ging sie, langsam und konzentriert, manchmal blieb sie stehen, und wenn so eine Bassklarinette direkt vor dir steht und energisch geblasen wird, da fährt dir das aber mindestens bis in den Musculus multifidus, ehrlich, sowas wirkt ungemein stabilisierend. Die Menschen waren recht still und hörten zu und schauten hin. Ich tue mir ja immer schwer so nahe heranspazierende Musiker*innen anzusehen, ihnen unverwandt zuzusehen, es fühlt sich auf unangenehme Weise distanzlos und aufdringlich an. (Und um ehrlich zu sein, es hätte auch eine Kontraaltklarinette sein können, die Gartmayer dem Vernehmen nach auch spielt; ich kenn’ mich da nicht so aus.) Jedenfalls: einen Klangraum so zu erleben, auf einem Schiff, mit Blicken auf ein vorbeiziehendes Draußen, das allmählich dunkler wird, das ist schon sehr speziell.

Es ging dann weiter, so ausflugsfahrtmäßig mit Geplapper und Gelächter, Herumstehen, Herumsitzen und immer wieder zwischendurch raus aufs Achterdeck, zu Wind, Wasserrauschen und Ausblick — die vertäuten Fischerboote an der dunklen Küste der Donauinsel, die sleeken neuen Hochaustürme am südlichen Westufer der Stadt, die Hotels der Marina. Wien ist ja bekannt dafür, dass die Stadt der Donau kein Gesicht zeigt, sondern eher den, äh, Rücken.

Bulbul spielten, wie gesagt, am unteren Deck, in gewohnt lauter und trockener und präziser Manier; es wurde dann recht heiß und, ehrlich gesagt, Bulbul schön und gut, aber das Achterdeck, die Stadt in der Nacht vorbeiziehen sehen, das hast du nicht so oft, also lieber wieder raus: vorbei an den jetzt in der Dunkelheit erleuchteten Neubauten, Hochhäusern, Türmen, an den angestrahlten Monumenten der Kaiserzeit und ihrer Ingenieurskunst (die Schemerlbrücke von Otto Wagner). Der Fluss, der auch bei einem beängstigenden Hochwasser die Stadt nicht mehr komplett überfluten kann, weil die Ingenieurskunst das Wasser mithilfe der künstlich angelegten Donauinsel, mit klug gebauten Entlastungsgerinnen und Wehren regulieren kann; Regionalzüge und U-Bahnen, die sich als Leuchtbänder am Ufer entlang und über Donaubrücken ziehen. Aus dem Dunkel taucht ein Lastkahn auf, der Kohle schippert, Autobahnbrücken, aber du hörst nichts, denn das Wasserrauschen und Bulbul übertönen viel.

Am Ende läuft dann noch Mats Gustafsson mit seinem Saxophon durch den Gang am Oberdeck, gewissermaßen auf Susanna Gartmayers Spuren. Dort entwickelt sich ein reizender Dialog zwischen den Geräuschen, die er seinem Instrument entlockt, entbläst, entkitzelt, und dem Kichern, Glucksen und Kreischen einiger Kinder an einem Tisch. Gustafsson, im kurzärmligen T-Shirt, spaziert dann tatsächlich noch heroisch aufs Achterdeck und bespielt die kalte Kulisse der dunklen Stadt an der Donau; ein ganz besonderer Moment.

S. sagt später, beim zweiten Teil der Feier in einem innenstädtischen Kellertheater, es wäre eine Utopie gewesen, da, am Schiff, mit all diesen Menschen und diesen Klängen. Ein utopischer Ort, der sich an der Stadt vorbeibewegte; ich denke an die stabilisierenden Muskeln, die du nicht direkt antrainieren kannst. Das Schiff nähert sich der Anlegestelle nach einer Wende von Süden her. Durch die angelaufenen Scheiben zeigt sich die angestrahlte Kirche am Mexikoplatz. Der Platz erhielt seinen Namen in Gedenken daran, dass Mexiko im März 1938 das einzige Land war, das vor dem Völkerbund offiziellen Protest gegen den gewaltsamen Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich einlegte.

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- 8 January 2025, 20:36 - katatonik

Inner Worlds, Outer Worlds

Seit der ersten Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika antworte ich auf die Frage, wie es mir geht, gewohnheitsmäßig mit, also mir persönlich prächtig, aber, weltlagenmäßig wäre ich denn doch eher besorgt, empört, bekümmert, je nachdem.

Doch, nein, wenn ich es genau bedenke, kam diese Form anders auf: Als ich nach einer recht schwierigen Zeit meines Lebens mit Pendelei zwischen Wien und Baden-Württemberg, aus einer Arbeitsumgebung, die mir nicht entsprach, wieder ganz nach Wien ziehen konnte, allmählich hier gemeinsam mit G. für uns neue Lebensbedingungen schaffen, da kam das Lebensgefühl “prächtig” auf, das ein “prächtig” trotz widriger Umgebungsumstände war, zu denen auch die Präsidentschaft Trumps zählte. Auch die widrigen Umstände skalieren, von global über regional nach lokal. Es war jedenfalls nicht so, dass die “prächtig-aber”-Dialektik durch eine Verschlechterung des Äußeren zustande kam, sondern durch eine Verbesserung der unmittelbaren Lebensumgebung, wie sie sich anfühlte, lebte.

Es ist gelegentlich therapeutisch, den Form und Tonfall bei geänderter Lage, Stimmungslage, Gefühlslage, gerade nicht zu verändern. Es hilft, Formen zu behalten, wenn sich die Inhalte, Absichten, Wünsche, Empfindungen ändern. Eine dann entstehende Spannung kann nicht beliebig weit aufrechterhalten werden, freilich, die Dinge können zerreißen.

Inner Worlds, Outer Worlds.

Vor einigen Monaten saß ich an einem Tisch in einem Machtzentrum der Republik. Mir gegenüber der Staatspräsident Indiens, neben ihm der Bundeskanzler, meiner Sicht durch einen Blumenstrauß entzogen. Weitere Herren am Tisch, die Wissenschaft, Wirtschaft, Industrie und Beamtenschaft repräsentierten. Eine Medizinerin, zur ESA-Ersatzastronautin auserkoren, und ich, wir waren die Frauen am Tisch. Der Smalltalk mit den Herren links und rechts neben mir führte bald dazu, dass die Herren, die sich natürlich alle kannten, sich über mich hinweg unterhielten, man kennt das. Das offizielle Österreich zeigt sich mir gesprächsmanierenmäßig regelmäßig stark beeinträchtigt, zwischen potschert und gibtsdenndes.

Man hielt sich mit innenpolitischen Äußerungen nicht zurück, die eigentlich nicht zum Anlass passten, die der Anlass keineswegs evozieren hätte müssen. Man hätte die Gosch’n halten können, wie so oft in diesem Land, über das Wetter reden, indische Kulturschätze, Reisen, es gibt ja viele unverfängliche Gesprächsthemen. Es ging aber um, nein: nicht um, sondern gegen die Sozialdemokraten, vor allem den aktuellen Parteichef, und es war nicht einmal nur unfreundlich, was da gesagt wurde, es war nachgerade beleidigend.

Noch evident beleidigender als die anerkennenden Worte über den indischen Staatspräsidenten und Indien, die sich anhörten, als wäre man hier überrascht, dass man dort Schuhe trägt oder sich die Nase putzt oder bis zehn zählen kann. So ein Beleidigtsein darüber, dass es die dort wagen können, erfindungsreicher, technisch versierter und besser organisiert zu sein. Noch evident selbstentlarvender als die anerkennenden Worte über die gute Vorbereitung der indischen Delegation, die offenbar professionelle Dossiers über ihre österreichischen Gesprächspartner*innen erstellt hatte und bestens informiert war, eine Eigenschaft, die die österreichische Seite nicht an sich würdigen konnte.

Ich wollte nicht unhöflich sein und hörte mit einer Miene zu, die sich steinern anfühlte, während ich die vegetarische Menüoption verzehrte, prächtige Karfiolschnitzel. Die Herren links und rechts hatten erleichtert kundgetan, wie froh sie wären, dass es auch Fleisch gäbe, die Protokollstelle hätte ja ursprünglich gemeint, aus diplomatischer Höflichkeit dem indischen Gast gegenüber nur Gemüse servieren zu wollen, aber wo käme man denn da hin. Da freut sich das krachende Kalbsschnitzel.

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- 5 January 2025, 21:21 - katatonik

Problembeschreibung

“Es ist meine tiefe Überzeugung, dass Radikale für kein einziges Problem eine Lösung bieten, sondern nur davon leben, Probleme zu beschreiben”.

Das sagte der nunmehr zurückgetretene österreichische Bundeskanzler in einem auf der Plattform X veröffentlichten Video. Ein Handyvideo, da stand er noch vor österreichischer Flagge. Das war alles, was man von ihm bekam, im Internet, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, ein hochkant stehendes Video mit aufgeweichten Randzonen zur Formatauffüllung.

Den ganzen Abend über dachte ich über die seltsame Antiklimax des Satzes nach, der mit dem Wort “beschreiben” am Ende vollends absackt. Die Hilflosigkeit des Bundeskanzlers, der noch in seinen letzten Worten gegenüber einer Partei, deren Vorsitzenden er immerhin als Sicherheitsrisiko für den Staat einstufte, mit dem er nicht ums Verrecken koalieren wollte, der noch in diesem seinen Abgangsstatement den Rhetoriktrainer, als der er ausgebildet wurde, nicht abschütteln konnte, die ganze Tragik einer Persönlichkeit, die in einem Politikstil gefangen und nun von den Mächten, die ihn oben hielten, fallen gelassen das Reale nicht benennen kann, sich bis zum Ende in das Euphemistische hineinzögert. Seit wann lebt der besagte “Radikale”, der Vorsitzende einer rechtsextremen Partei, Propagateur von Massenabschiebungen und Freund Rußlands, der ehemalige Innenminister, der den eigenen Verfassungsschutz sabotierte, seit wann lebt dieser Mensch davon, Probleme zu beschreiben?

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- 30 December 2024, 20:33 - katatonik

Kaos (Serie, 2024; Charlie Covell)

Charlie Covells “Kaos”, erstmals nach langer Zeit eine mit großem Genuss gesehene Serie. 8 Episoden, eine überbordend lustvolle, doppelbödige Erzählung über die großen Kräfte der Gegenwart im Kleide der griechischen Mythologie. Jeff Goldblum als Zeus, Janet McTeer als Hera, David Thewlis als Hades, und so weiter. Der Olymp, eine launisch herrschende Firma, die Menschen und Reichtümer verschiebt, als gäb’s kein Morgen. Liebevoll unsubtil gestaltet — das Gemälde von Leda und dem Schwan hinter Zeus’ Sitzmöbel im Palast, der einer pseudoantiken Neureichenvilla gleicht, die Unterwelt als brutalistisch-bürokratischer Albtraum, gewissermaßen als Ellis Island, von wo aus die Guten und mit Obulus Versehenen zur Wiedergeburt antreten dürfen, während die anderen in einem undefiniert grauen Zwischendasein ohne Geschmackssinn Hilfsdienste leisten dürfen, der Nebeneingang in die Unterwelt in einer Biker-Kaschemme in der texanischen (oder so) Wüste.

Besonders ansprechend dabei die Rollenwendungen der Frauenfiguren. Orpheus, der Rockstar, steigt Eurydike nach, aber Eurydike entdeckte eigentlich am Tage ihres Todes, dass sie ihn nicht mehr liebt, und dann ist der Trottel auch durch seine selbstsüchtige Gefühligkeit dafür verantwortlich, dass sie nach ihrem Tod im brutalistischen Albtraum steckenbleibt. Es geht so aus, wie es in der Mythologie ausgeht (sie kommen nimmer z’samm), aber besser.

Ambivalenz looms large. Hera, von der Figur der in passiv-aggressivem Racheverhalten gefangenen Ehefrau eines unkontrollierbaren Kleinkind-Ehemannes zu einer leidenschaftlichen, machttaktisch gewieften und vergnügt brutalen Hüterin von Geheimnissen transformiert. Da ist diese eine Szene, in der sie auf einer Sonnenliege an Deck der recht protzigen Yacht des Poseidon, umstehend ihre stummen Dienerinnen (deren Zungen entfernt worden waren), von Poseidon oral befriedigt wird. Sie genießt es, dabei laut zu sein, ihr Geheimnis den Dienerinnen in die Ohren zu brüllen, you’re the best, schreit sie heraus. Im postorgasmischen Dialog fragt er, fast schüchtern, ob sie ihn eigentlich hätte heiraten können, und es entspricht ihr ganz und gar zu antworten if I had married you I would be doing this with him. Sie kennt sich und ist ganz, was sie ist, so sind sie in der Chefetage der griechischen Gottheiten. Ohne zivilisatorischen Firnis leben sie ihre Launen aus, dabei nur von Sorge um die Erhaltung jener Bedingungen getrieben, die es ihnen ermöglichen, ihre Launen auszuleben — argwöhnisch darauf achtend, dass diverse launische Wesen, Menschen, Halbgötter, andere Götter, auch ja nicht vergessen, dass ihre Launen, die der göttlichen Chefetage, Schicksal wären.

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