Tokyo, August 1, 2004
Die NHK-Nachrichten im Flugzeugfernsehen berichteten von Taifun Nr. 10, der über Shikoku und Westjapan zieht. Dann zeigt das Flugzeugfernsehen drei Scheissfilme, aber nachdem es ohnehin ein zentralisiert angebrachtes Halsverrenkfernsehen ist, ist mir das auch egal. Ich lese den nachbarlich verehrten Kriminalroman (dazu vielleicht später mehr), esse und trinke, übe mich in minutiösen Rückenmuskelbewegungen, döse etwas und wache dann zeitgerecht in den Sonnenaufgang über Sibirien auf.
Im Sommer von Europa nach Japan zu fliegen ist praktisch, weil man aufgrund der klimatisch-geografischen Konstellationen durch wenig Dunkelheit in einen wolkenfreien, stundenlangen Sonnenaufgang hineinfliegt. Der öffnet den Blick auf riesige, sich durch Wüsteneien und karge Ebenen schlängelnde Flüsse; ich nehme an, der erste der vielen war der Ob. Wüsten, oder so etwas Ähnliches, kaum Besiedeltes, und dann Waldflächen, durch die wohl sowjetische Planung hunderte Kilometer lange, schnurgerade Wegschneisen geschlagen hat. In fruchtbareren Gegenden dann ein paar Felder, alles schön gross und sehr, sehr rechteckig. Die Wolken verbergen die Sicht, sobald Meer ansteht. Geheimnisvoll: Das Gebiet vor der sibirischen Ostküste (oder wie immer das da geografisch korrekt heisst) ist sehr bergig, dann gibt es plötzlich nur noch Wolken, als wäre gleich mit den sibirischen Bergen die Welt aus.
Am Flughafen begebe ich mich, nach langen Fahrten mit Transportbändern, in die fürsorgliche Obhut der japanischen Immigrationsbehörden, die vorsorglich verschiedene Schalter für Japaner, Ausländer und Priority-Line-Bedürftige eingerichtet haben. Ganz vorne an der Schlange weist ein älterer Herr in Uniform die wartenden Ausländer Schaltern zu. Wenn gerade der Priority-Schalter (für Schwangere, Senioren, Kleinkindbehaftete oder anderwärtig Prioritätsbegründungsfähige) frei ist, wird der Ausländer auch unbürokratisch dort hin gewunken. Er wird auch an einen Japanerschalter gewunken, wenn einer frei ist. Geht der Ausländer aber selbsttätig und spontan da hin, wird er zurückbeordert, denn er, der ältere Herr (Mr. Suntory persönlich, der Boss of them all?) winkt hier herum, ohne sein Winken geht niemand von Schlange zu Schalter. Der Zollbeamte fragt höflich und sieht von Kofferöffnungen ab.
Nach zwei Stunden Zugfahrt durch heisse Leere im Kopf stehe ich im Hotel, das gleich neben einem Bahnhof liegt. Das Zimmer ist noch nicht fertig, war mir Gelegenheit zu einem zombiesken Spaziergang durch das Einkaufszentrum nebenan gibt. Die Celluliteproduktpalette hat sich erheblich erweitert und ist mittlerweile aufdringlicher gestaltet. Jede Menge Pakete mit “Bust up”, “Hip up”, immer irgendwelche weiblichen Fleischpartien nach oben reiben oder salben oder mit Tabletten raufdrücken, wie auch immer. Überall Bilder mit nackten, straffen Fleischpartien drauf auf den Packungen.
Die Sockendiversifizierung ist erstaunlich und hat mit der Flipflopisierung Schritt gehalten. Es gibt Sockenarten für alle mögliche Fussteile: Socken, die eigentlich nur bunt gestrickte Hüllen für den Fussballen sind, Socken, die aus unter Flipflopstreifen verlaufenden Textilstreifen bestehen und auf Karton gespannt so aussehen wie Pygmäenstringtangas, Socken, die nur die Zehen umfassen.
Doutor, einst Kaffeeschnellrestaurantkette meines Vertrauens, hat das Sortiment der Starbucksisierung auf rührend bodenständige Weise angepasst. Es gibt die Gläser kalten Kaffees mit den vielen kleinen Eiswürfeln drin jetzt in drei Größen, aber immer noch als dickwandige Gläser, die man nur von japanischen Hausfrauen der Fünfziger Jahre serviert bekommen möchte. Es gibt auch neue Konstellationen (“Ice Moka”) mit Schlagobers draufgepatzt, sehr rührend, dazu neue Variationen aus Schaumgummibaguette (Avokadohuhn mit 7 Sorten Gemüse, das gab’s zu meiner Zeit noch nicht).
Die Gegend, ein in meinem Hirn noch gänzlich undefinierter Stadtteil im Westen Tokyos, lässt sich infrastrukturell angenehm an. Ein Tonkatsu-Restaurant gleich vorm Hotel, zwei “Family Marts” in Gehweite, dazu noch ein Soba-Restaurant, irgendein Asian Foods-Restaurant, ja, verhungern wird es sich hier nicht. Ich werfe ein Aloe-Vera-Sojajoghurt ein und trinke dazu 100 ml “Yunkeeru-Royaru 100” (Junker!), so einen eigentlich für Verkaterte gedachten Aufbaudrink aus Taurin, Vitamin und Gelée Royale, aus kleiner, brauner Flasche. Ich warte auf S., die aus der entgegengesetzten Himmelsrichtung nach Tokyo fliegt und sich mit mir für fünf Nächte ein Zimmer und, wie ich soeben bemerken musste, wohl auch eine Bettdecke teilen wird. Hoffentlich dehnt sich das Teilen auch auf den Jetlag aus, zwei können wir eigentlich nicht brauchen.
Frau S. kam mit einem tragbaren DVD-Player im Gepäck an, womit die Unterhaltungselektronikausstattung des Zimmers nun vervollständigt wäre. Wir haben guten Fisch und feinen Reis gegessen, jetzt gibt es Grünteeeis und Jetlag-Movies. (Kommen Sie doch einfach vorbei!) Die Herren an der Rezeption finden den Gedanken, dass sich zwei Frauen ein Doppelbett teilen, übrigens augenscheinlich verstörend. Um ihre Nerven zu beruhigen, baten wir um eine zweite Decke. Jetzt halten sie uns wahrscheinlich für völlig durchgeknallt.
katatonik (Aug 1, 04:23 pm) #
Jetzt noch auf dem DVD-Player "Lost in Translation" angucken - und der japanische Spass ist perfekt.
gHack (Aug 1, 04:33 pm) #