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- 19 08 2022 - 11:25 - katatonik

Seoul: Menschendurst, Disputgesten, Spuren von Weltereignissen

Im Shuttle-Bus vom Hotel zur Konferenz neben F. aus Tel Aviv gesessen; er will auswandern, das Land neige sich nun einfach so stark in Richtung Diktatur, dass er dort nicht mehr bleiben wollen würde. Er war einige Jahre in Berlin; wir tauschen uns über Schwimmbäder und anderes aus. Er läuft übrigens immer noch so viel wie 2016, als wir uns zuletzt in Berkeley sahen. Mittlerweile hat er aber hübschere, knallorange Laufschuhe. Tags darauf neben der quirligen C., die ich auch zuletzt in Berkeley sah. Sie ist gerade sehr schwanger, wollte unbedingt zur Konferenz, trotz Beschwerlichkeit, einfach Menschendurst und Sehnsucht nach dem Gespräch mit uns allen (man fühlt sich gleich total geehrt). Glücklich in Kanada ist sie mit ihrem noch recht neuen Job, immer wenn sie in die USA zu Besuch fährt, fällt ihr der ganze Stress auf, den sie jetzt nicht mehr hat – sich um Krankenversicherung kümmern zu müssen oder beim Lehren an der Uni erstmal abchecken, wie man bei einem Shooter die Studis am schnellsten aus dem Hörsaal kriegt. Und nach der Geburt in Karenz gehen zu können. Ihre Arbeit steht meiner inhaltlich nahe. Ich habe vor Jahren eine These ihres Betreuers kritisiert; sie schwang sich dann in einem Aufsatz zu seiner Verteidigung auf, was ich ungeschickt fand (und, wäre ich er gewesen, hätte ich sie davor gewarnt, das zu tun, das kann nur schiefgehen). Ich kritisiere jetzt in meinem Konferenzvortrag unter anderem Aspekte ihrer Argumentation, nicht ohne ihr dafür zu danken, dass sie mich dazu angeregt hat, Einiges aus meiner früheren Arbeit zu überdenken. Sie bedankt sich und deklariert ihre damaligen Ausführungen in so many words als unreife Produkte eines “graduate student”. Kleine Gesten des wissenschaftlichen Disputs, der in diesem Fall gar kein Disput wird; wir bleiben einander mehr als freundlich gewogen und halten uns dabei offen, einander auch künftig kritisch zu begegnen.

Im taiwanesischen Restaurant eines Abends neben E., aus Jerusalem; hemdsärmeliges Wissenschaftsmanagementgespräch über Projekte, die man führt, Rahmenbedingungen, um neue Projekte zu beantragen, Arbeitsbedingungen während der letzten beiden Jahre. Wir umschiffen die bereits Konferenzklatsch gewordene Kontroverse zwischen ihm und B., die sich — versteckt — in deren beiden Konferenzvorträgen äußerte, aber nicht ausgetragen wurde, da keiner beim Vortrag des anderen zugegen war. Am hervorragend organisierten Teepausenbuffet treffe ich R., der direkt aus Sri Lanka nach Seoul gekommen ist, wo seine Familie gemeinsam etwas Zeit verbrachte; man kennt viele Leute dort, ja, es sei natürlich eine Art Revolution dort im Gange, aber man könne reisen und sich bewegen.

O., der stille, freundliche Israeli, den ich vor Jahren über sein Dissertationsvorhaben kennenlernte, arbeitet nun an der New York University in Abu Dhabi, eine Enklave der internationalen Wissenschaft mitten in der Wüste, umgeben von einer Gesellschaft, mit der man tatsächlich so wenig zu tun hat, wie ich mir das vorgestellt hatte. Mit H., aus Korea, hätte ich mich gerne unterhalten, ich habe einen hervorragenden Antrag von ihm vor einigen Jahre positiv mitbeurteilen können. Nach seinem PhD in den USA ging er nach Japan, nun hat er einen Job in Korea. Ich höre sein Panel dann schon online aus dem Hotelzimmer, als ich aus Gründen nicht mehr persönlich an der Konferenz teilnehmen kann; er beeindruckt mich mit seiner Sachkenntnis und seinen bestimmt, aber ruhig vorgebrachten Korrekturen von Fehlern anderer.

Zwei Abendessen zwischendurch mit sehr honorigen Kolleg*innen, ältere Semester. Luruxiöse koreanische Restaurants, in denen wir in separaten Räumen mehrgängige Menüs serviert bekommen. Schiebetüren öffnen sich, ein Wagen wird hereingerollt, still werden leere Teller und Schüsselchen entfernt und neue auf Tischen platziert; es gibt Erklärungen der Speisen, die einer der koreanischen Kollegen übersetzt. Dabei von C., die ich schon seit Jahrzehnten kenne, jetzt erst Biografisches erfahren, wie sie bei Bochenski Logik studiert hat und bei einer französischen Dame, die Husserl-Schülerin war, Philosophie, und wie sie dann Künstliche Intelligenz zu studieren begann, schon früh; sie landete dann aber auf Wegen, die wir dann im Gespräch nicht mehr beleuchten konnten, bei der Geschichte, Kulturgeschichte, aber eben immer auch noch Philosophie.

Ich kenne sie als oft sehr unnachgiebig im Gespräch, dabei gleichzeitig geistig so offen und neugierig. Ganz offensichtlich eine begnadete Lehrerin, denn “ihre” Leute sind schlicht und einfach top. Ich bekomme das alles nicht zusammen außer mit Verweis auf den sozialen Druck zur Strenge, dem Frauen ihrer wissenschaftlichen Generation unterworfen waren (den eine immer noch spürt, aber ganz bestimmt schwächer). Die Kombination aus unglaublicher wissenschaftlicher Neugier, Offenheit und sozialer Unnachgiebigkeit und Engstirnigkeit begegnet mir in dieser älteren Generation freilich oft, nicht nur bei Frauen.

Und wie C. dann immer auch das Persönliche verficht, die Wichtigkeit der Schüler-Lehrer-Beziehung in der Wissenschaft, und, ja, aber, wie ist denn das mit den Missbräuchen, will ich da einwerfen, mit den vielen Dissertant*innen, die durch ihre Lehrer de facto zerstört wurden, durch überzogene Ansprüche, Grenzüberschreitungen, missbrauchsnahe oder missbräuchliche Verhältnisse; oft, aber nicht immer Frauen, und denen es geholfen hätte, hätte es da eine Struktur gegeben, eine Umgebung, aber das gab es nicht, und die sind ja jetzt alle nicht mehr da, um das Loblied auf die genialen Lehrer*innen zu relativieren und mit ihren Einsprüchen für Misstöne zu sorgen, und am Ende bleiben nur diese genialischen Persönlichkeiten als Teil der Geschichte, die man halt einfach durchstehen muss. So sollte Wissenschaftsgeschichte nicht geschrieben werden.

Ich habe keine der in Russland arbeitenden Kolleg*innen wahrgenommen (in der Ukraine ist das Fach nicht vertreten). Man hätte ihnen wohl Online-Teilnahme ermöglichen können, theoretisch, praktisch war die Online-Schaltung der Konferenz schwierig zu organisieren, und das ging dann wohl schon aus zeitlichen Gründen des knappen Vorlaufs nicht mehr. Auch aus Japan waren nur wenige angereist; man befürchtete Infektion und dann einfach nicht mehr nach Hause reisen zu können.

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