Seoul: Von Infektionen
Nach zwei Jahren Pandemie hat es mich dann doch erwischt. Als ich das schreibe, steht das Ergebnis des PCR-Tests noch aus, doch zwei Selbsttests gestern und heute waren positiv, die Symptome sind da, wenn auch sehr leicht, und Informationen über Infektionen bei der Konferenz häufen sich. Aber, nein, es ist irreführend zu schreiben “nach zwei Jahren Pandemie”, denn in diesen zwei Jahren ist das Virus mutiert, es wurden Impfungen entwickelt, soziale Parameter angepasst. “Nach zwei Jahren Pandemie”, das klingt nach einer unveränderten Lage. So ist das nicht, nein, gleichzeitig fällt es emotional schwer, die durchlebten Stufen der Entwicklung auseinanderzunehmen und ein adäquates Verhalten zur Gegenwart zu finden. Wo beginnt Unvorsicht?
Gestern noch die Meinung — drei Selbsttests innert 24 Stunden waren negativ —, die Symptome wären nur die einer Erkältung, was angesichts des raschen Wechsels von heiß-schwüler Außenumgebung und überklimatisierten Innenräumen auch nicht gerade unwahrscheinlich war. Natürlich hielt ich dann gestern meinen eigenen Vortrag in persona, maskenfrei (vor FFP2-Masken tragendem Publikum), für diese Hubris könnte ich mich heute sonstwohin beißen. Natürlich ging ich mit den betagten honorigen Kolleg*innen zum Abendessen, maskenfrei im Restaurant (in separatem Raum freilich), mein Sonstwohin fühlt sich nun schon arg zerbissen. Die Oldies nehmen die Sache übrigens sehr locker und entspannt. Shit happens.
Der Selbsttest heute früh dann mit starkem roten Strich, nicht mehr so schwach wie der von gestern Abend, nach dem Essen. Was tun? E., die koreanische Organisatorin, erzählte von Kollegen aus den US, die ebenfalls positive Tests hätten; nein, sie hätten nicht PCR-nachtesten lassen, denn wenn man das tut, besteht bei positiver Infektion die Gefahr einer siebentägigen Quarantäne, und damit wäre die geplante und bereits bezahlte Rückflugreise übermogen Geschichte, all sorts of problems. Das ganze Abendessen über gestern war sie am Telefon und baldowerte mit zwei US-Kollegen Hotellösungen aus, denn einige Hotels schmeißen infizierte Gäste raus; auch das ein Faktor. (Einen der beiden hat sie kurzer Hand bei sich zu Hause einquartiert; sie zieht dafür ins Hotel. Den anderen konnte sie nicht aufnehmen, er hätte auf ihre Katze wohl allergisch reagiert.)
Ich überlege an diesem Morgen also hin und her. Testbestätigung ja oder nein? Ich entschließe mich dann doch für den Test. Es ist einfach das Richtige; auch wenn es unangenehm wird, weil dann tatsächlich formell Quarantäne, von der ich noch nicht ganz weiß, was sie bedeutet (werde ich irgendwo einquartiert, muss ich mich um Quartier bemühen, Nahrungsversorgung wie, usw. usf.). Und ich bleibe ohnehin noch fast zehn Tage hier und werde vermutlich meinem Arbeitgeber gegenüber eine offizielle Infektionsbestätigung brauchen, falls Kosten auflaufen (für Flugumbuchungen oder Hotelstornos), die ich gerne erstattet hätte. Wenn der Organismus mitspielt und das Immunsystem tut, wofür es vier Impfungen trainiert haben, kann sich der Rückflug ausgehen. (Go, guys, go! rufe ich meinen T-Zellen gelegentlich zu.) Und wenn er verschoben werden muss, muss er halt. Ich kann echt nicht zwölf Stunden im Bewusstsein, infektiös zu sein, neben jemand anders im Flugzeug sitzen, notgedrungen zur Nahrungsaufnahme zum Teil ohne Maske. (Und, ja, diese Entscheidung muss man sich leisten können, und ich bin in der glücklichen Lage, dass ich kann.)
Es gibt etwas weniger als zwei Kilometer entfernt ein “Public Health Center”, das in einem der Dokumente der koreanischen Regierung als offizielles Testzentrum ausgewiesen wird. Zwei Kilometer, das scheint mir zu Fuß machbar; ich bringe es nicht über mich, höchstwahrscheinlich infektiös in ein Taxi oder in eine U-Bahn zu steigen. Ich werde länger brauchen, aber ich traue mir das zu. Ich setze noch E-Mails ab an alle, bei denen ich mich erinnern kann, die letzten Tage etwas länger in ihrer Nähe zugebracht zu haben (ja, darunter auch die schwangere C., noch so ein Biss sonstwohin).
Ein langsamer Fußweg. Die mehrspurigen Hauptverkehrsachsen von Hochhäusern gesäumt — seit den 1980er Jahren sei Gangnam so ausgebaut worden, erzählte E. —, doch sobald man in die kleinen Nebenstraßen einbiegt, wird es niedriger. Dort stößt man auf überraschende Architekturen, die die Straßenlinien aufbrechen, und auf nicht minder überraschende Alleen. In einer der Seitenstraßen diese chinesischen Schriftzeichen, auf japanisch “gendai” transliteriert — das bedeutet soviel wie “Gegenwart, Moderne”, auch als Attribut in Komposita.
Es ist wohl ein Firmenname; ich habe die Zeichen auf den Busfahrten zur und von der Konferenz in den letzten Tagen öfter gesehen. Es kommt mir gerade aber auch irgendwie smart vor, auf meinem Weg in das Testzentrum Zeichen für “modern” an einem Gebäude zu sehen. (Und, so informiert Frau @standseilbahn auf Twitter: Es sind de facto die Hanja für Hyundai.) Ich habe den neuen Luxuskopfhörer mitgenommen, als eine Art Belohnung und Unterstützung am Fußweg. Es ist Mittagszeit. Ich gehe mit FFP2-Maske und halte mich fern von den langsam aus ihren Büros kommenden Mittagessengeher*innen. Ich denke an X., die mir von ihrer auf Reisen (in Europa) begonnener Covid-Infektion berichtete, und wie sie dann keinen PCR-Test machte, weil sie sich nicht hätte leisten können, die Quarantäne im Reiseland abzusitzen. Wie sie dann so vorsichtig wie möglich den Rückflug antrat. Sie muss sich ähnlich gefühlt haben, eine wandelnde Infektionsquelle in den Straßen, bedachtsam von anderen Menschen fernbleibend, gleichzeitig aber doch wissend, dass wahrscheinlich auch einige andere so sind; es wird auch in Korea wohl nicht jede*r den Quarantänevorschriften entsprechen. Auch ich war nicht ganz korrekt, als ich heute früh nach dem positiven Selbsttest noch einmal in den convenience store ging, Lebensmittel für den Tag zu holen, und noch einmal in die Apotheke zwecks Erwerb eines Fieberthermometers, das ich natürlich vergessen hatte mitzubringen. (Noch ein Biss, Sonstwohin?)
Der Randomizer des Players bleibt bei dem Hörspiel r_crusoe von Wittmann/Zeitblom stecken. Was passt besser zu einem Fußweg in ein Testzentrum unter sehr wahrscheinlichem Einfluss eines Virus, das eine globale Pandemie auslöste, als eine “posthumane Robinsionade”? Fühlte mich auch an Emily St. John Mandels Station Eleven erinnert, 2014 veröffentlicht, ein Roman über eine Welt, in der die Menschheit durch eine globale Pandemie stark dezimiert wurde. Ich habe das Buch im Sommer 2020 gelesen, es schien dann bei Covid passend.
Ich kann mich auf das Hörspiel schlecht konzentrieren; es ist ein kluges Hörspiel, das Konzentration verlangt. Aber der Sound wird eine passende Begleitung für den Weg. Posthuman, so schiebt sich die Vorstellung urbaner Moloche aus Science-Fiction-Filmen über das Seoul um mich herum, entleerter menschlicher Strukturen, vergessener menschlicher Gesten und Gepflogenheiten. Der reale Weg in das Posthumane, er ist aber dann doch banal, brutalistisch, bürokratisch, er lässt sich schlechter erzählen, er besteht aus Nachlässigkeiten und Dummheiten, aus Dingen, die nicht getan werden, aus Gewohnheiten, die nicht geändert werden, er ist weniger ereignishaft.
Ich folge den Montagen des Hörspiels und lasse mich von den stellenweise wie Mantren eingeschobenen Sätzen auf Englisch in meiner matschigen Langsamkeit vorantreiben. A thing and the data of a thing. Irgendwo ein Satz wie “Je näher man die Dinge betrachtet, umso mehr lösen sie sich auf”, und da fällt mir sofort eine Verszeile ein, die ich gestern in meinem Vortrag behandelte, “Je mehr man die Dinge untersucht, umso mehr lösen sie sich auf”. Er stammte aus einem indisch-buddhistischen Text des 6. oder 7. Jahrhunderts und hatte einen sehr spezifischen theoretischen Kontext. Außerdem geht es nicht um die Betrachtung, den suchenden Blick (bzw. das Zerlegen der Dinge in Daten), sondern um eine rationale Analyse mithilfe einer bestimmten Art von Argumenten, eine zerlegende Denkbewegung. Trotzdem ein Gefühl von serendipity, als ich den Satz des Hörspiels höre, da in den Nebenstraßen Seouls mit ihren unerwarteten Warnungen.
Das Testzentrum ist ein Zelt vor dem eigentlichen “Public Health Center”. Außer mir nur noch zwei andere Testpersonen; es geht schnell, ich muss online ein Formular ausfüllen, bei dem mir eine Angestellte — in blauer Schutzkleidung mit Maske, so wie ich sie aus Österreich kenne, man geht hier nicht all in bei der Vermummung wie in China — hilft, denn an den Popups zur Ermittlung der Adresse (Hangul) meines Hotels scheitere ich. Der Test geht dann zackzack und ist gratis.
Der Rückweg fühlt sich beschwingter an, erleichterter. Die Mittagessengeher*innen bewegen sich mit Kaffeebechern zurück an ihre Arbeitsstätten. Ich widerstehe der Versuchung, mir den “Take Away only”-Food court am Weg anzusehen, denn die Infektion ist ja nicht vorbei, nur weil ich ihrer besser gesicherten Identifizierung einen Schritt näher gekommen bin.