Struktur und Perzeption
Fünfzehn Kilometer auf Hängen hinauf und an ihnen entlang, Kiefernwälder dezenter Dichte und zarten Duftes, als ob jeder Baum seinen Respektabstand vom anderen halten würde. Vielleicht ist Kiefernduft für andere Kiefern so wie Schweißgeruch in überfüllten Bussen, damit will man sich nicht zu nah an andere Vertreter der Spezies wagen. Rot-graue Böden, gemaserte Felsen, Blicke in Talkessel und Talschneisen. Viel Stein, wenig Wasser. Gelegentlich andere Wanderer, viel Neopren unterwegs mit neonfarbener Oberbekleidung. Wolken weht es über Bergkanten, der Wind bricht sich an Felsen, die Sonne immer wieder; es geht sich angenehm, so, kurzärmelig.
Vogelstimmen: ganz oben die Raubvögel. Falken und Bussarde, die einander nicht grün sind, in den Baumspitzen die Kanarengirlitze, in den tiefer gelegenen Gestrüppen die Kanarenzilpzalpe, dazwischen immer wieder die Kanarenmeise, die auch den viel schöneren Namen “Ultramarinmeise” trägt. Das sagt mir die Merlin-Vogelstimmen-App, ein wunderbarer Tröstungsmechanismus dafür, dass die Kollegen einfach viel zu schnell und geschäftig sind, um von meinen noch langsamen Augen gesehen zu werden. Die Erfahrung sagt, in ein paar Tagen hat sich der Perzeptionsmechanismus eingegroovt, adaptiert, dann beginne ich auch Kleinvögel in bewachsener Umgebung zu sehen (jetzt noch: nur, wenn sie auf blattlosen Spitzen hocken), wenn sie nicht, so wie die Mönchsgrasmücken, immer zu schnell sind und perfiderweise ihre akustischen Signale so versenden, dass man sie immer an einem Ort sitzen wähnt, wo sie nicht sind.
Zurück im Ort, der auf altkanarisch “Tunte” heisst. Ich habe noch gut drei Stunden bis zur Abfahrt des Busses, der mich wieder an die Küste bringen wird. Der Ort bergig gelegen, natürlich, man ist hier ja im vulkanischen Inselinneren. Essen, Beine ausruhen, langsame Gänge durch Gassen, das ethnografische Museum leider geschlossen, ebenso wie die Kirche. In der Sonne lässt es sich angenehm sitzen, im Schatten verfröstelt eine der Wind bald. Aus einem Souvenirladen bläst so laute Musik; ich hielt es kurz für eine Fiesta.
Auch in den Orten das erst langsame Eingrooven des Perzeptionsmechanismus. Sind mir eigentlich die immer wieder wechselnden Verputztechniken an Häusern auch auf anderen kanarischen Inseln jemals aufgefallen, Teneriffa, La Gomera? Es ist einige Jahre her; ich weiss es nicht. Hier, auf Gran Canaria, sehe ich jedenfalls: die Mauersockel gerne variierend, oft weißer Putz mit Aussparungen ins darunter liegende Grau dazwischen, so blobmäßig, die Struktur von Steinblöcken emulierend. Aber auch andere Farben, andere Muster, Linien, die sich mit der Pflasterung der Straßen schneiden, die — Hanglage — immer entlang einer Schrägkante auf sie trifft.
Der Ort hat seinen Rhythmus, auch verkehrsdefiniert, das entnehme ich dem Gespräch mit einem Cafékellner. Nicht viele Leute da am späten Nachmittag, nur noch die, die länger wandern waren und nun auf den Bus warten müssen; es gibt einen an die Südküste um 14:30, den nächsten dann erst um 18:00. Die Bergradler sind jetzt schon wieder weg um diese Zeit. Eine Gruppe frierender Finnen in Wanderkleidung. Keine Musik mehr; der Souvenirladen geschlossen. Zwei junge Männer, einer mit Gitarre; er hatte an einem der mehreren Miradore auf einem Bankerl vor sich hin geklimpert. Sie wollen zum Roque Nublo und bieten sogar 10 Euro Mitfahrentgelt; das steht auf einem Schild, das der eine den Autofahrern entgegenhält, an der Ausfallstraße mit der Busstation. Sie haben kein Glück; als ich schon im Bus sitze, geben sie ihren Standort auf und gehen mit ihren 5l-Wasserflaschen wieder in Richtung Ort.