The Ballardian Hotel
[Das ist jetzt schon drei Wochen her, aber es musste zu viel rumgelebt werden zwischendurch.]
Ich komme auf Gran Canaria an, am Flughafen, es ist abends, und ich bin müde. Ein Taxifahrer holt mich ab und bringt mich an die Südküste in das Ballardian Hotel, wie ich es nenne, aus Gründen, dazu später. Er ist Italiener, heisst Francesco und ist seit längerem hier, musste nur während Covid dann doch wieder für einige Monate am Stück nach Italien, denn es gab zu wenig Arbeit auf Gran Canaria, am Beginn der Pandemie. Sie wissen: keine Touristen. Wir tauschen ein paar Nettigkeiten über unsere jeweiligen Länder aus. „Austria – nice“, sagt er, ich signalisiere ihm mit einem freundlichen „nice, but crazy“, dass er mit mir gern auch absudern kann. Dann extemporieren wir über Regierungen und deren schäbige Behandlung von Menschen, von Asylsuchenden vor allem, ihre Ausbeutung in der süditalienischen Landwirtschaft. Kenne ich die Geschichte von diesem Typen im Latium, eine örtliche Bekanntschaft, war im Gefängnis und hat sich rehabilitiert, und jetzt würde er so eine karitative Organisation leiten, die aber nichts anderes täte als migrants ausbeuten, es sei furchtbar. It’s crazy.
Und so geht es dahin, während wir auf der gut ausgebauten Autobahn die Küste entlang gen Süden fahren, vorbei an Gewerbegebieten und kärglicher Vulkanlandschaft, mit ersten Blicken auf das (mittlerweile) Dunkel da draußen, das das Meer ist. Dann sprechen wir auch noch über Neapel; das kenne ich, er auch, er hat Heldengeschichten von da, er als Soldat der special forces, der in Montenegro gedient hatte, und wie er mit Frauen in sozialen Brennpunktgebieten in Neapel verabredet war und dann dort die Mafiatypen, also ja, es sei nicht einfach gewesen, aber es sind eben Heldengeschichten, und er steigt gut aus dabei (wie das dann mit den Frauen weiterging, erzählt er mir nicht). Ich bringe dann noch die Heiligen San Gennaro und San Gaudioso und deren Katakomben ins Spiel, das scheint mir auf all die Heldengeschichten hin passend.
Man kann sich das Ballardian Hotel sofort als ein verlassenes, aufgegebenes Gebäude vorstellen, als inzipiente Ruine. Ein riesiger Bau, mehrere Türme, die in den Fels hineinwachsen. Restaurant, Lounge, Bars, eine knallbunte Game lounge mit Automaten und Minikegelbahn, Tennisplätze, ein Thalassopool mit Therapieräumlichkeiten, ein größerer Fitnessraum, Souvenirshops; weitläufige Terrassen mit noch mehr Bars und Liegestühlen und infinity pools, hinter deren architektonisch verborgenen Umrahmungen der Blick frei wird auf felsige Hänge mit anderen Ballardian Hotels. Eine nudist area im doppelten Sinn (da ist nämlich nie jemand, haha). Eine Parkgarage mit Wandbildern des kanarischen Street artists Sabotaje al Montaje, von denen es auf Gran Canaria überhaupt recht viele gibt, aber wer rechnet schon in einer Hotelbunker-Parkgarage mit ihnen? (Sogar im Fitnessraum des Hotels gibt es einige.)
Es ist verwirrend, dass in dem Hotelturm, in dem mein Zimmer liegt, der 7. Stock unterhalb des Erdgeschosses liegt, aber so ist das in Bauten an der Steilküste. Steinformationen, menschengemachte Erweiterungen vulkanischer Geologie.
Es bereitet der Vorstellung keinerlei Schwierigkeit, Leben von dieser Umgebung zu subtrahieren. Eine Architektur, die ihr eigenes Verlassenwerden in sich trägt, als würde sie es drauf anlegen. Eine Provokation der Umstände, eine vorauseilende Resignation in die Umstände hinein. Man sieht einen Teil dieser Bauten hier und jetzt ohne Menschen und kann sich sofort vorstellen, ja, so bleibt das, genau dafür wurde das gebaut. Mark Fisher zitiert aus einem Essay von Ballard über den Surrealismus (‘Coming of the Unconscious’, 1966):
‘surrealist painting has one dominant characteristic: a glassy isolation, as if all the objects in its landscapes had been drained of their emotional associations, the accretions of sentiment and common usage.’
Ersetze glassy isolation durch rocky isolation, und da wären wir dann.
Wie war das hier zu Beginn der Pandemie 2020, als niemand mehr kam oder kommen konnte? In dieser Art humanoidem Blackout, als die energieerhaltenden Systeme zwar noch wollten und konnten, ihr humanoider Treibstoff aber plötzlich ausblieb? Hielt man Routinen aufrecht, beharrlich, aber ohne augenscheinlichen Zweck, ließ man Bereiche langsam nutzlos werden, das Wasser in den Pools eintrüben? Oder vollzog man geplantes Zurückfahren, auf Direktiven aus einer irgendwo am Festland angesiedelten Konzernzentrale reagierend, ließ die Pools einfach aus? Mussten die von José im Akkord gebratenen Frühstücksspiegeleier von den anderen Kellnern aufgegessen werden, weil sie halt im Plan waren? Gingen sie an die zahlreichen Möwen und Tauben, die immer über der Frühstücksterrasse lauerten? Ging José einfach Taxifahren in seine Heimatregion, so wie Francesco? Kam es zu mehr oder weniger geheimen Grenzüberschreitungen, Eskalationen, ähnlich wie in Ballards High-Rise? Sprangen die Zimmerreiniger:innen (mein Zimmer reinigte übrigens Miguel, und das weiss ich, weil er mich mit einer Notiz bat, seine performance am survey day des Hotels positiv zu vermerken) in die Pools, die sie — heimlich — doch wieder einließen, entspannten sie mit den Schwallbrausen im Thalassobecken? Kam es zu wechselseitigen Solidaritätsmassagen, und wieso sind derlei Formen freier Gemeinschaftlichkeit hier so schwer vorstellbar, wogegen die Fantasie mühelos Szenen grotesker und brutaler Enthemmung in die Hotelräumlichkeiten einpassen kann? Und warum fallen mir diese Fragen erst jetzt ein, Wochen später? Ich hätte sie Sven, dem schwedischen Rezeptionisten (knapp der Clearasil-Hölle entronnen), unbedingt stellen müssen, auch wenn er sie gewiss nicht hätte selbst beantworten können (wie die meisten meiner Fragen, sorry, Sven, ich weiß, du stehst erst am Anfang deiner Rezeptionistenlaufbahn, und, ja, ich finde das Hotel auch so toll wie du, ist schon gut).
Im Ballardian Hotel fühle ich mich wie am Rande von High-Rise, stets an der Kippe zu totaler Massenentgrenzung, obwohl de facto um mich herum gar nichts entgrenzt; es ist alles sehr schaumgebremst mit ein bisserl Animation für die Kids hier und unengagiert verfolgten Abend-Musikeinlagen dort. Ich fühle mit der akrobatischen Performer:innentruppe (zwei Frauen, ein ladyboy) an meinem letzten Abend, nach einer Woche. Sie bringen Nummern aus “Cabaret” und ähnliche Genre-Klassiker mit großem Einsatz und ernten dafür in der riesigen Halle nicht einmal müdes Klatschen. Es wäre Applaus gegen den Raum.
Ich schätze die Beiläufigkeit, die Unauffälligkeit, das Unpersönliche. Hier bin ich niemand, und niemand will etwas von mir. Ich beginne täglich morgens zu schwimmen, treffe dabei wiederholt auf einen, dem (lange nicht gehörten) Akzent nach zu schließen, irischen Sportschwimmer. Wir plaudern ein wenig über die Wellen von Poolbesuchsintensität und wann man am besten schwimmen kann. Ich entspanne meine Muskeln nach dem Wandern unter der Schwallbrause und vor den Massagedüsen im Thalasso-Becken, am Kopf wie alle das vorgeschriebene Plastik-Duschhäubchen, das bei jeder Bewegung leicht knistert. Ich hebe im Fitnessraum Gewichte neben stöhnenden finnischen Hochleistungsgewichthebern und ihren Söhnen, gemütlich radelnden britischen Pärchen und einem dauerdehnenden Strandpromenadenjogger ungeklärter Provenienz. Sehnige Männer, auch so ein Mem.
Abends gehe ich zum Essen in eines der Restaurants an der Playa de Amadores, gegrillte Meeresbewohner mit Papas arrugadas und rotem Mojo, ein Weißwein, vielleicht noch ein Café carajillo. Ich freue mich, wie die dänisch sprechenden jungen Menschen am Nebentisch, die so viel lachen – warum spricht er so oft von „Spaghetti carbonara“? –, er und sie, einander näherkommen, auch wenn ich den Eindruck habe, dass sie etwas zu bemüht lacht und er das nicht bemerkt, auch wenn ich befürchte, dass er bald spüren wird, nicht heute, aber morgen oder übermorgen früh, wie sie ihm entgleitet, noch bevor sich das anfühlen kann als mehr als nur eine Verheißung, und er wird sich hilflos dabei fühlen. Ich hoffe für sie, dass das nur die Melancholie ist, die mir der Sand am Meer manchmal in die Augen treibt, und laufe langsam an der gepflasterten Strandpromenade zurück, von wo aus ein Aufzug mich in die Hotelhöhle bringt, die keine Menschen braucht. Ich schlafe bei geöffneter Balkontür; das Meer rauscht.