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- 1 04 2023 - 13:10 - katatonik

Durch die Hügel von Las Palmas ins Museum

Eines Tages zieht es mich in die Hügel, die ich am Rande der Altstadt von Vegueta zwischen höheren Wohnblöcken hatte aufblitzen sehen. Drang, Orte von oben zu sehen, immer. Da ist eine Treppe, die zwischen zwei Wohnblöcken nach oben führt, dann sind da Serpentinen, immer enger werdende Gassen, die sich nach oben winden. Unebene Steintreppen mit unregelmäßigen Abständen, die Kurven abkürzend. Niedrige Häuser, reparaturbedürftige Häuser, improvisierte Häuser, unebene Fassaden. Kommunale Bemühungen — ein winziger Park, Flächen für Wandbemalung — in ärmlicher Umgebung. Etwas nach links, bis in eine Sackgasse hinein, etwas nach rechts, dort dann plötzlich fast schon in einem Haus stehend, erschrockene Umkehr. Wenigen Menschen begegnet; eine junge Frau trägt Kaffeebecher den Hügel nach oben, neben ihr ein kleines Kind. In einem Haus sitzt ein stämmiger Typ im Feinripp am Fenster, tätowierte Oberarme, er sieht mich an, ich meine: griesgrämig, ich blicke weg und gehe rasch weiter. Ein paar Häuser weiter Schlumpftechno aus einem Raum ohne Fensterscheiben. Es gibt in und um Las Palmas Hügel und Hügel: die einen wie dieser hier, vollgepackt mit improvisierten Leben und ihren Umgebungen, die anderen dünner bebaut mit imposanten Villen und versperrten Gärten.

Orientierung über Osmand (Open Street Maps), viel detailgetreuer als Google Maps, verlässlicher bei kleineren, schmaleren Wegen. Die App zeigt einen Weg am Hang entlang zu einer Art Burg, Befestigungsanlage oder Ruine. Ich folge diesem Weg, der bald durch eine G’stett’n führt. Fantastischer Ausblick nach unten über die Stadt, verwinkelte Altstadtteile umgeben von Arealen mit Achsenplanung des 19. Jahrhunderts und rezenteren ohne ersichtlichen Plan. Am Rand des Wegs vereinzelte Sperrmüllobjekte, dann plötzlich ein kleiner Betonbau, vor dem zwei Motorräder geparkt sind. Türen verschlossen, Rollladen runter. Was geht hier vor? Entführung, Übergabe von Diebsgut, Affäre, Nachhilfestunden? Ein Stück weiter begegnet mir eine ältere Frau mit einem Hund, graues Gesicht, Müdigkeit. Sie wirkt verstört mich zu sehen, erwidert mein Lächeln nicht. Das ist für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich, auf den Kanaren wird sonst viel gelächelt und zurückgelächelt. Noch ein Stück weiter Reste einer alten Befestigungsanlage, einer Mauer, die den Hügel hinabführt.

Ich gelange zu einer Straße, die kurvig bergab verläuft. Vor mir, etwas weiter weg, geht ein Mann, Jeans, Hoodie, ausgelatschte Turnschuhe, angegrautes Kurzhaar, eleganter Gang, ein weißes Plastiksackerl wie eine Herrenhandtasche lässig um den linken Unterarm gewunden. Er geht schneller als ich; ich verliere ihn aus den Augen. Ein kleiner Weg biegt ab, ein Hinweisschild zum Castillo de Mata, ich folge ihm. Hinter einem Betonklotz sehe ich den Mann wieder, er nestelt an seiner Hose, zieht er sich um, lässt er Wasser, masturbiert er, fängt er mit dem, was immer er tut, gerade an oder ist er fertig damit? Ich versuche, möglichst ungerührt wirkend an ihm vorbeizugehen, wie eine das halt so macht. Es sind so zehn Meter zwischen ihm und mir. Er hat mich gesehen und nickt mir plötzlich lächelnd zu, ich grüße zurück, lächle ebenfalls. Er deutet mir, dass es da nicht weitergehe, auf diesem Weg. Ich danke ihm gestisch für den Hinweis und drehe wieder um.

Das Castillo de Mata entpuppt sich als modernes Museum, das in die Ruinen einer alten Befestigungsanlage hineingebaut wurde (älteste Teile 16. Jh.). Es trägt den schönen Namen “Museo de la Ciudad y el Mar Castillo de Mata”. Die Architektur unaufgeregt gut: Galerien und Treppen führen vom Neubau aus in die Hohlräume zwischen den fragmentarischen alten Steinkörpern, ziehen Linien durch von alten Rundmauerresten nur noch angezeichnete Räume. Eleganter Kontrast. Im Museum wirkt alles etwas improvisiert, am Eingang eine junge Frau mit Laptop, sonst nichts; freier Eintritt. Einige Stockwerke sind geschlossen. Sie beherbergen wohl allgemeine Sammlungspräsentationen zur Geschichte von Las Palmas. Nur ganz oben eine geöffnete Ausstellung. Später lese ich nach, dass das Museum recht neu ist, vermutlich noch im Aufbau, in der Einrichtung begriffen. Es wäre mir auch entgangen, wäre ich nicht zufällig aus den Hügeln hier in die Gegend gekommen. Wenige Besucher*innen; wenig Personal. Somit: im Zweifelsfall versuchen, welche Türen offen sind, in einen riesigen Raum gelangen, in dem neue und alte Bauteile am dichtesten ineinandergreifen, Treppen erkunden, Blickwinkel suchen.

Die Ausstellung: “Ars Botanica”, botanische Zeichnungen und Malerei zwischen wissenschaftlicher Illustration und bildender Kunst. Begründet aus der Bedeutung der Naturgeschichte für die kanarischen Inseln, sowie auch umgekehrt der kanarischen Inseln für die Naturgeschichte: Das Monumentalwerk “La Historia Natural de las Islas Canarias” (1835—49), eine illustrierte Gesamtdarstellung der kanarischen Inseln, eigentlich vorwiegend im Französischen (sowie in Latein), unter Federführung des britischen Botanikers Philip Barker-Webb und des französischen Naturforschers und Ethnologen Sabin Berthelot, legte — laut Ausstellungs-Begleittext — die Grundlagen der modernen Naturgeschichte. (Es ist im übrigen mehr als nur Naturgeschichte; der erste Band widmet sich Ethnografie und Eroberungsgeschichte der Inseln.) Berthelot begegnet einer hier recht häufig, nicht zuletzt in der Gestalt des nach ihm benannten Anthus berthelotii, des Kanarenpiepers, mit Vorliebe in Brachen anzutreffen, von denen es auf diesen vulkanischen Inseln nicht gerade wenige gibt. Ich finde es passend, dass sich einer, der sich so eingehend mit der Natur dieser Inseln befasst hat, ausgerechnet in einem unscheinbaren Vogel wiederfindet, der deren unscheinbarste, aber dominierende Landschaftsform (auch akustisch) prägt: den steinigen, trockenen, unwirtlichen Zwischenraum.

In der recht eklektischen Ausstellung, die nicht besonders groß ist, eine spezielle Erklärbärtafel über Frauen in der naturwissenschaftlichen Illustration (Verweis auf: Sabina Alcaraz, “Mujeres e ilustración botánica”, EME Experimental Illustration, Art & Design, (10), 50–67. DOI). In der Ausstellung besonders aufgefallen: die sehr feinen Zeichnungen von Marta Chirino, einer Biologin; umfangreiche zweibändige (Gemeinschafts-)Veröffentlichung zur spanischen Wasserpflanzenwelt (FLORA ACUÁTICA ESPAÑOLA, 2009). Dann die Serie Flora von Marisa Culatto: Fotografien gefrorener Pflanzenkompositionen, modelliert als Stillleben. Culatto schreibt von Schönheit, deren Verlust und dem vergeblichen Versuch sie festzuhalten: gefrorene Momente, die das Wissen um baldiges Vergehen mit einschließen. Da ich mich recht viel mit der Philosophie der Vergänglichkeit im Buddhismus beschäftige, trifft das bei mir mehrere Nerven. Dazwischen auch noch einige Blätter von Kōno Bairei (1844—1895), eines einflussreichen japanischen Malers, der vor allem für Kachō-e bekannt ist (Holzschnittalben, vorwiegend Blumen + Vögel). Und schließlich auch noch der local hero César Manrique, der mir bisher nur als Architekt bekannt war (der großartige Mirador del Palmerejeo auf La Gomera), seinem Selbstverständnis nach aber eigentlich eher Maler. In der Gestimmtheit der Begeisterung, die mit der Entdeckung eines unerwarteten Ortes einhergeht, bedanke ich mich bei der jungen Frau, die etwas gelangweilt am Eingangslaptop des Museums sitzt. Das wäre ein wirklich tolles Museum, sage ich. Sie lächelt.

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