Wanderungen im Westen
Gran Canaria: blauschwarzer Basalt an den Steilküsten. Tuffstein. Bimsstein. Im Landesinneren: auch graugrüner Phonolith (Klingstein). Schroffe Felsen. Es heisst, dies wären Überreste erkalteter Vulkanschlote, deren umgebende Gesteinsschichten durch Erosion bereits abgetragen wurden. Felswände, rostrot, braun, Schichten. Geröll. Auf den Wegen: Verstreutes.
Einmal: ein Weg quer zu den Verläufen eingeschnittener Täler im Westen der Insel. Von der Degollada de Tasarte, einem Pass, nach Osten in das eine Tal – nach Veneguera – hinunter, dann den Hang dort zum nächsten Pass (Cruz de Mogán) nach oben und nach Mogán hinunter. “Degollada”, das heisst übrigens “enthauptet”; die Verwendung für ein Landschaftsmerkmal (nicht ganz klar, welches) scheint auf die kanarischen Inseln beschränkt zu sein, ist jedenfalls nicht in Online-Wörterbüchern für Spanisch belegt.
Mit dem Bus zur sehr windigen Degollada de Tasarte, dort unerwartet in Gesellschaft einer deutschen Reisegruppe und eines anglophonen Paars, die beide denselben Weg antreten wie ich. Erst ein Geröllweg in Serpentinen bergab, schwarz, grau, rot. Vorsicht bei jedem Schritt, um nicht auf Steinbrocken wegzurutschen. Stöcke, eine ausgezeichnete Idee. Konzentration auf den Untergrund, gleichzeitig immer wieder das Einatmen des Panoramas, das Abstimmen des Körpers auf Rundblicke, die Bergketten entlanggleitend, die zum Meer hinab führen, die grün beflaumten rotbraunen Hänge. Kalibrierung der Sensomotorik. Erstaunlich, wie man trotzdem noch Gedanken nachhängen kann, als müsste das Hirn immer noch eine Schleife mehr einlegen, oder sich halt auch noch bewegen, wenn sich der Rest des Organismus bewegt, kann ja nicht einfach so in seiner eigenen Schleimigkeit ruhen.
Als wäre es Absicht irgendeiner gestalterischen Intelligenz, dabei ist es nur Artefakt des optischen Apparats: die harten Formen und großen Flächen (der Hänge) weit weg, im Hintergrund, mit ihren horizontalen Schichtlinien und vertikalen Wellungen, in der Nähe dann das Kleinteilige, die Pflanzen in fahlem Grün, Kakteen, Aloe Vera, in leuchtend frischem Grün die jungen Drachenbäume; Sukkulenten, Gräser, in den feuchteren Tälern Schilf und Palmen, vereinzelt Blühendes. Der Sound der Kanarengirlitze (flatternd), jagende Falken (rüttelnd), knarzende Grasmücken (unsichtbar). Wind.
Hurtig, um der unerwarteten und unerwünschten Gesellschaft zu entkommen. Hurtig, hurtig. Die lautere Gruppe bleibt bald weit hinter mir zurück; vom stillen Paar lasse ich mich überholen, als mir die Beobachtung eines Lanius meridionalis koenigii, einer Unterart des Iberienwürgers (somit ein Verwandter des Neuntöters), wichtiger ist. Er hatte sich auf einem Gebüsch niedergelassen und knarzte charakteristisch. So wurde ich auf ihn aufmerksam. Er ist aber auch leicht zu erkennen in dieser Landschaft, das Gefieder schwarz, weiß, grau, wie ein Filterartefakt im Bilderstream.
Geschichtsspuren, spärlich: verlassene Gehöfte, Ruinen; könnte man die Landschaft kundiger analysieren, würde man genauer erkennen, wo landwirtschaftlich genutzte Flächen (angelegte Terrassenfelder) aufgegeben worden waren, auch wann, man könnte sicher auch in der Landschaft Geschichte lesen, wenn man das könnte. Über das Gipfelkreuz am Pass zwischen Veneguera und Mogán (Cruz de Mogán) lese ich auf einer Tafel, es sei 1899 von der Frau von Don Miguel Marrero anlässlich seines Todes errichtet worden, und jedes Jahr am 3.5. hätte das Ereignis begangen werden müssen. Vereinzelt Spuren von Menschenleben, die zu deuten mir Kontext fehlt, das ist nicht uncharmant.
Einige Tage später ein Tal weiter westlich, Ausgangspunkt der Pass westlich von Tasarte, Cruce de Tasartico. Anspruchsvollerer Weg, schmaler Pfad, ungesichert, gleich neben einer Hangkante. Ein Samstag; die Hänge verstärken das Motorengeräusch der Motorradfahrer, die sich weiter unten die Serpentinenstraßen hinauf- und hinunterschlängeln. Höhlen im schroffen Fels über mir, Spuren von Vogelbrutaktivität, im Tal unten mit Planen bedeckte Gemüseplantagen beachtlichen Ausmaßes, weiter hinten das Meer, noch weiter hinten der Teide auf Teneriffa, wattewölkchenumkränzt. Es gibt Wege, auf denen man eine Gegend vor sich sieht, die man noch durchwandern wird; das hier ist dagegen ein Weg mit Blicken in ein Tal, von dem ich weiß, ich werde es nicht mehr aufsuchen, während der Verlauf des Wegs vor mir ungewiss ist, mir nicht einsichtig, hinter Felsen und Biegungen verborgen. Es ist merkwürdig desorientierend, wenn das, was eine sehen kann, nicht das ist, was als Weg vor ihr liegt.
Ein mit Felsbrocken übersäter Hang, mildes Klettern wird notwendig, dabei intuitiv einen Weg erspüren, der nicht mehr markiert ist. Unklarheit. Ich setze mich auf einen großen Felsen in die Sonne, atme tief durch, schaue, Leerheit im Kopf. Etwas weiter unten am Hang erscheint ein Wanderer, ein athletischer Kerl; wir winken uns zu. Wie so ein Stehaufmanderl erscheint er in den nächsten Minuten immer wieder, links, rechts, in der Mitte; er sucht offenbar nach dem Weg. Er deutet fragend zu mir hoch, aber die Situation ist zu kompliziert, als dass ich ihm mit einer einfachen Geste Orientierung verschaffen könnte. Als ich aufbreche, sehe ich ihn noch einmal, schon über mir am Hang, dann verschwindet er.