20 Jahre Antville.org: Ameisenhaufen oder doch eher Ameisenstraßen
Im Frühjahr 1999 hatte ich ein Doktorat in Japan abgeschlossen und zog nach Wien zurück. Die Zukunft war sehr ungewiss, sah aber für die kommenden drei Jahre zumindest finanziell gesichert aus. Das war genug. In Wien gab es neue Lokale, die ich noch nicht kannte, wie zum Beispiel das rhiz unter den ausgebauten Gürtelbögen, über dessen Webcam ich bereits in der stressreichen Endphase meiner Dissertation in Japan staunend neue elektronische Musik mitbekommen hatte. Es gab viel Musik dieser Art, ich fand Vieles davon großartig und lief mit Oval im tragbaren CD-Player durch Japan (hüstel). Das Festival phonoTAKTIK 1999 stand vor der Tür, alles total funky mit Internetz und HTML und Typen, die — man höre und staune — auf Laptops Musik machten. Ich lebte in einer desolaten Wohnung (am Gürtel) und bastelte auf allen Ebenen meiner Existenz herum, zwei Schritte in die Richtung, drei in jene, unschlüssig, aber mit gelassenem Spaß an der Sache. Wien war umgänglicher geworden. Die arroganten Kulturfuzzis der Spät-1980er und Früh-1990er wurden durch die überkandidelten und tendenziell freundlicheren Internetfuzzis der frühen 2000er abgelöst. Idioten gab es freilich immer noch genug, und die Regierung Schüssel-Haider richtete in der Gesellschaft mehr Schaden an, als ich damals wahrhaben wollte. Aber es gab grundsympathische, begeisterungsfähige und umgängliche Menschen, viele davon genauso unschlüssig wie ich, aber mit Spaß bei der Sache, die gerade Sache war.
Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Idee kam, ein Weblog zu erstellen. Ich vermute, es hatte mit Alkohol zu tun, mit nächtlichen Gesprächen, mit idiosynkratischem Ausdrucksdrang. “Erstellen”, das hieß damals (hört staunend zu, junge Leute) irgendwelche HTML-Seiten über FTP auf Server hochzuladen, stundenlang an Berechtigungsproblemen zu feilen, tief in den Eingeweiden obskurer Perl-Skripte zu wühlen, dazu Whiskey zu trinken und elektronische Musik zu hören, von CDs oder (räusper) über Napster heruntergeladen. “Greymatter” hieß die erste Weblog-Software, mit der ich experimentierte; es kamen andere, am Ende blieb ich bei dem unglaublich eleganten “Textpattern” hängen, zu dem ich gekommen war, weil der Erfinder Dean Allen ein interessantes Weblog hatte, “Textism” (Allen lebt leider nicht mehr).
Offenbar kam dann antville.org in 2001, sonst würden wir ja kein 20-Jahr-Jubiläum feiern, Schnuckiputzis. Ich glaube, ich stieß offline auf antville.org, weil einige der Typen, die die Software erstellten und sich sehr viele Gedanken um das Drumherum und das Dahinter machten, einen ähnlichen Umgang pflegten und man sich bis hin zu gemeinsamen Konzertbesuchen und Abendessen immer wieder über den Weg lief. Vielleicht aber auch online, über die damals ja handgestriegelten Weblog-Linklisten (man nannte das “Blogroll”). antville.org war ein feiner Ameisenhaufen, ja, und drumherum gab es viele andere Weblogs, verbunden mit Ameisenstraßen, auf denen Ideen, Kommentare und flache Witze hin- und herwanderten. Eigentlich fand ich die Ameisenstraßen fast wichtiger als den Haufen, denn den Haufen überblickte man eh nicht; da gab es Vieles, wo man gar nicht vorbeikam, und das ist anscheinend immer noch so. Viele derjeniger, mit denen ich über Ameisenstraßen bekannt geworden war und von denen ich dann doch gar nicht so wenige irgendwann traf, in Hamburg, Berlin (hier das Blogmich-Protokoll aus 2005, Triggerwarnung: zweifelhafte Nudelsalatbemerkungen!), Köln, Leipzig, Bremen und natürlich St. Bimbam, sind heute auf Twitter unterwegs, manche wie ich unter anderen Namen, manche in ihrer immer noch handgestriegelten Weblogidentität. Einer davon teilt sogar Pürierstab und Amselfütterungsvorräte mit mir.
Flache Witze und Abseitigkeiten sind geblieben, natürlich sind auch andere tolle Leute dazugekommen, aus anderen wuselnden Insektenhaufen des Internetzes, das finde ich immer noch großartig. Es ist halt nicht der kleine finnische Klub (das war so ein Insiderwitz), sondern eine gediegene finnische Bar in einer Großstadt, in der man manchen zuruft, sich mit anderen verplappert und dritte meidet, aber, hey, nichts gegen finnische Bars!
Aber eigentlich ist die Bar-Metapher auch daneben, denn das besonders Schöne an antville.org und an Weblogs allgemein war, dass man diskret Menschen zuhören konnte, die einfach so vor sich hin schrieben, ohne an Kommentaren interessiert zu sein, die gerade keinen Bock hatten, irgendwann auch einmal gemeinsam ein Achterl oder Sekt auf Eis zu zwitschern. Die zarte Formen der Präsenz entwickelten, die ihre eigene Selbstverständlichkeit gewannen, bei denen es aber genauso selbstverständlich war, dass man sich ihnen gegenüber still verhielt.
Zurück zum Lauteren. Auf antville.org sind einige Dinge entstanden, die man heute als Mem bezeichnen würde, einige Initiativen auch, die im Prä-Soziales-Netzwerk-Zeitalter technisch, sprachlich und visuell intelligent gemeinsam etwas hervorbrachten. Über diese vielen genialen Dinge haben andere Genialeres geschrieben. Mich erbaute an dieser Seite von antville.org immer das Abseitige und völlig Danebene, ich bin da völlig unsubtil. Die Brigade Schantal Konopaschke hatte ich schon wieder vergessen, noch mehr, dass sie eigentlich als Getränkestützpunkt begonnen hatte. Dass ich 2003 einen Blogwart-Superstar-Award gewann, vergesse ich Euch nie, Schnuckiputzis, und den Wasted Comments Dump, auf dem man Kommentare ablegen konnte, die man dann lieber doch nicht postete (“Wasting words is our business”), vergesse ich mir nie (und noch viel weniger dem genialen Programmierer Nik Haldimann, der das Ganze so fein umsetzte und verbesserte). Es ist übrigens ein Qualitätszeichen von antville.org, dass die dortige Müllhalde auch nach der letzten Abladung von vor mehr als 10 Jahren völlig untoxisch herumwest.