Go to content Go to navigation Go to search

- 31 10 2022 - 19:43 - katatonik

Eins nach dem anderen, bis zum Zorn Gottes und darüber hinaus (Wien Modern, Eröffnungskonzert)

[Zum Festival Wien Modern hier ein ausführliches Interview mit Festival-Leiter Bernhard Günther aus dem Jahr 2016, hier ein aktuelles.]

Eröffnungskonzert am 29.10.:
Helmut Lachenmann: Tableau (1988–1989) – 13’
Matthias Pintscher: Assonanza (2021 EA) – 28’
György Kurtág: Stele op. 33 (1994) – 14’
Sofia Gubaidulina: Der Zorn Gottes (2019) – 18’
Wiener Symphoniker, Dirigent Matthias Pintscher, Violine (bei Pintscher) Leila Josefowicz.

Das nicht warme, aber auch nicht gleißende, jedenfalls elegante Licht im Foyer des Wiener Konzerthauses, das Einströmen in das Konzert, beginnend im Foyer, das in der Erinnerung immer höher wirkt als in Wirklichkeit, beginnend also mit dem Sondieren des Raumes und der schon Anwesenden, fortsetzend mit dem Abgeben von überflüssigen Kleidungsstücken, Taschen, Regenschirmen an den Garderoben, dann eventuell mit der Einnahme eines kleinen, vielleicht gar alkoholischen Getränks am Buffet in der Mitte.

Das Schreiten dann, die Treppen hinauf, die Abreisser und Abnicker von Karten passierend, die noch das eine oder andere Kleidungsstück als Garderobenabgabe einmahnen, das Sichverteilen der Strömenden nach links und rechts. (Der Typ will erst, dass ich meine Hoodie-Jacke noch abgebe, dann sieht er meinen Festivalpass und winkt mich gnädig durch – echt jetzt?)

Das Eintröpfeln in den Raum – es gilt ausnahmsweise freie Platzwahl, man fühlt sich geneigt, rasch an gute Plätze zu streben, doch tut man dies gemessenen Schritts; der Raum verlangt decorum. Publikum sehr gemischt, von sehr jungen Leuten über die (wie ich) leicht zerknitterte und stilistisch unklar definierte Mittelstufe des Daseins bis hin zu distinguierten älteren Damen und Herren mit ordentlichen Veneergebissen. Schräg hinter mir sitzt wieder einmal ein Typ, den ich von irgendwoher kenne, ohne ihn zu kennen. Wir lassen’s dabei. Einige Musiker*innen schon auf der Bühne, man spielt sich ein, schön atonal. Kurz der Gedanke, es wäre eigentlich auf unpassende Weise passender, wenn ein Geiger vor einem atonalen Konzert zum Einspielen kurz den Donauwalzer intonieren würde, oder ein Heurigenlied, was mit melodiösem Schmalz.

Das Orchester träufelt herbei, noch wird hie und da geplaudert. Man wirkt routiniert — immerhin sind das die Wiener Symphoniker —; gerade, dass einer der eher selten beanspruchten Musiker nicht sein Jausenpackerl rausholt, aber vielleicht tut das eine*r, irgendwo auf den hinteren Rängen, die man vom Parterre aus nicht sieht. Ein bisserl Jausenpapierknistern, das fällt bei neuer Musik eh nicht auf. Seit wann tragen Orchestermusiker*innen eigentlich vornehmlich schwarze*s Bluse / Hemd und schwarze Hose? (Hey, Gendersternen geht auch mit Kleidungsstücken!)

Auftritt des Dirigenten Martin Pintscher – eines seiner Stücke steht auch am Programm –, der exakt so zugerichtet aussieht wie einer der Typen, die mir gern auf Instagram folgen: kompakt, in kalkulierte Widerborstigkeit gegelter Haarschopf, gestutzter Bart; packaged masculinity. Eine Website wie ein in Worte gefasstes stock photo. (File under: “Unterm Xenakis hätt’s des ned gem.”)

Es fällt mir schwer, bei moderner Musik auf Struktur und Verlauf zu achten, jene Kennerschaft zu entwickeln, die dann in der Pause über einem Achterl in leicht näselndem Tonfall die Komposition kommentiert. Mich begeistern konkrete Übergänge, Ver- und Entdichtungen, Verschiebungen in den Harmonien, unerwartete Einsätze; mir fehlt der Blick aufs Ganze. Das liegt wohl auch daran, dass ich schlicht über keine Kennerschaft verfüge (no shit sherlock); die Stücke im Konzert sind für mich zumeist neu, das Konzert dann eher Einstieg als Kulmination einer bereits betretenen Bildungslaufbahn.

Die Bögen der Streicher*innen, wie sie im gleichen Rhythmus nach oben schießen. Die Klänge von weiter hinten, die sich bei neuer Musik so schlecht zuordnen lassen, wenn man die Musizierenden nicht sieht – ein Hauchen, ein Zusammenknüllen, ein Klappern, sind das die Bläser oder andere? Auch eine Violine kann übrigens Hauchlaute erzeugen, parbleu. Die Soloviolinistin, sie holt bei dem Pintscher-Stück aus der Geige mit ihren gemeinhin klar konturierten Tönen etwas heraus, was mehr so klingt, wie der von Scheinwerfern durchstrahlte Nebel aussieht, den ich später am Heldenplatz in die Nacht zerfasern sehe, ein ungemein zarter Ton ohne Ränder.

Die Ruhe im Saal, der sehr gut gefüllt ist (und er ist groß, und es hat auch Galerien). Der ewig schöne Effekt, dass man die Streicher*innen schon ansetzen sieht und weiß, jetzt kommt’s gleich, jetzt wird wieder vibriert, gestrichen, umstrichen, und dieser eine Moment der Spannung davor; das Anheben. Die Gesichter und die Gesten der Musiker*innen, die kleinen Gespräche in den Pausen und vor dem Beginn des jeweils folgenden Stücks. Der weißhaarige Streicher, der der Japanerin oder Chinesin neben ihm offenbar etwas erklärt, denn er spielt ihr kurz etwas vor; sie nickt, ich interpretiere: höflich. Auf der anderen Seite etwas weiter hinten ein Typ mit hohem Haaransatz und Brille, der nach jedem Stück immer so leicht skeptisch seinen Kopf wiegt und die Mundwinkel verzerrt, als würde er sagen wollen “na, also so richtig super hamma des jetzt ned dawischt”. Die Lieblingsgesichter, die man sich so zurechtblickt, der stattliche Steicher ganz links, eher onkelhaft gemütlich, die schlanke, jugendlich wirkende, weißhaarige Streicherin mit Kurzhaarfrisur in der Mitte rechts. Und sicher blicken sich auch die Musiker*innen ihre Publikumsgesichter zurecht, denen sie dann während des Applauses recht lange recht regungslos gegenüberstehen dürfen. Es wird übrigens lang und ausgiebig applaudiert, objektiv verhalten, relativ — für das eher benimmgewohnte Publikum — hochenthusiastisch.

Das letzte Stück des Abends, Sofia Gubaidulinas “Zorn Gottes”, 2020 im Streaming bei Wien Modern uraufgeführt, nun Wiener Erstaufführung. Blechbläserwellen und Streichpassagen mit pfundiger Dialektik; Aufbau und Entladung; dramatisch, kraftvoll. Ich hätte bei einigen Passagen fast mitgemosht, mit Hoodie wirkt das im Konzerthaus möglicherweise deplatziert, wäre aber immerhin stilistisch stimmig.

Man braucht so seine Zeit, bis man das Konzerthaus verlassen kann; es strömt alles langsam die Stiegen hinunter und direkt in die Garderobenschlangen (Garderobier*innen im Konzerthaus, selten was Flinkeres gesehen). Als ich gehe, kommen auch bereits die Musiker*innen aus dem Nebeneingang mit ihren hard und soft cases in Händen und auf Rücken. Ich versuche zu erraten, wer darin ein Streich- und wer ein Blasinstrument verbirgt. Ein Musiker fährt auf einem elektrischen Einrad ab (nein, ich wusste vorher nicht, dass es sowas gibt), dabei ein hard case am Rücken. Wien modern halt.

Ich fahre noch im Viennale Club vorbei, aus Neugier auf das DJ-Team des Community-Radiosenders Radio Rudina. Der Viennale Club ist angenehm altersniederschwellig, da kann man auch als zerknitterte Daseinsmittelstufe noch in den Keller, wo die Jugend tanzt. Viele junge Frauen da, angemessen divers, aber die Musik ist nicht so meins; ich fahre bald durch den Nebel nach Hause. This night, not vague enough.

  Textile help